Danke, 2016

DAS JAHR, IN DEM ICH VERSUCHTE, ERWACHSEN ZU WERDEN

bildschirmfoto-2016-12-30-um-00-16-32In diesem Jahr bin ich gefühlt einmal im Monat von irgendwelchen Beamten kontrolliert und irgendeines Vergehens bezichtigt worden. Mal hatte mein Fahrrad kein eigenes S-Bahn-Ticket, mal zählte meine Bahnfahrkarte nicht für die S-Bahn. Einmal fuhr ich auf der falschen Straßenseite Fahrrad und wurde von einem von diesen superkorrekten Fahrradpolizisten mit Helm und Warnweste angehalten. Jedes Mal wurde ich behandelt, als habe ich gerade einen Massenmord verübt.

2016 war das Jahr, in dem ich offiziell erwachsen wurde. Jedenfalls machte ich lauter Sachen, die sich erwachsen anfühlten: ich unterschrieb einen Arbeitsvertrag, ich schlief zu wenig, machte eine Steuererklärung und häufte unbezahlte Rechnungen auf meinem Schreibtisch an. Vielleicht sind die ständigen Kontrollen durch die staatliche Obrigkeit und die entsprechenden Bußgelder, die meinen Kontostand nicht gerade verschönerten, ja ein Indiz dafür, dass ich mit dem Erwachsensein noch ziemlich überfordert, also gar nicht erwachsen bin. Irgendwie auch ganz beruhigend. Erwachsen werde ich schon früh genug.

Aber der Reihe nach.

Im Januar fing ich als Autorin beim ZEITmagazin an. Das Angebot kam überraschend – bis heute warte ich auf den Moment meiner Entlarvung als Hochstaplerin, oder auch „Schmalspurakademikerin“, wie mich der Ressortleiter beim FAS-Praktikum noch genannt hatte. Zu Arbeitsbeginn hatte ich noch nicht mal meinen Uniabschluss in der Tasche. Das hielt meine Arbeitgeber nicht davon ab, mich gleich nach Mailand zu schicken, wo ich die neue Männermode unter die Lupe nahm. „Der Boom der Männermode scheint nicht unbedingt zu mehr Wagnissen auf den Laufstegen zu führen“, schrieb ich hinterher auf ZEIT Online„sondern eher zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen des modernen Mannes.“ Was ich damals damit meinte, ist mir heute schleierhaft. Aber gut, immer schön nach vorne schauen.

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Foto: Sandra Semburg

Überhaupt waren Männer in diesem Jahr mein großes Thema – nicht nur, weil ich das erste Jubiläum mit meinem persönlichen Lieblingsexemplar feierte, sondern auch, weil ich alle großen Männer der Mode zum Interview treffen durfte. In Paris unterhielt ich mich, ebenfalls im Januar, mit Demna Gvasalia über seine Kindheit in Georgien, Berliner Partybusse und Balenciaga. Das war irgendwie schräg – mit dem most wanted man der Branche in einem schäbigen Café im 10. Arrondisement zu sitzen und Tee zu trinken. Ich klammerte mich an meine drei Stück Papier und hatte ungefähr eine Stunde lang einen Herzstillstand vor Aufregung.

Wenn ich mich nicht gerade mit schlauen Männern unterhielt, beschäftigte ich mich natürlich eingehend mit mir selbst. Ich weiß gar nicht, ob das was Gutes oder was Schlechtes ist, jedenfalls verbringe ich wirklich viel Zeit damit, mich zu fragen, wie es mir eigentlich gerade geht und wie ich mich fühle und was mich stört und so weiter. „Habe ich Stil?“, fragte ich mich, nachdem ich in Mailand mehrmals vor meinem eigenen Schaufensterspiegelbild zurückgeschreckt war. Nach eingehender Untersuchung meiner Erscheinung diagnostizierte ich eine Art stilistischer Schizophrenie: „Ich bin eine Barbie, die kein Make-Up mag, ich besitze fünfmal so viele High Heels wie Turnschuhe, trage aber manchmal liebend gern Männerjeans zum Männerhemd, am nächsten Tag dann wieder ein geblümtes Rüschenkleid mit Overknees. Ich finde Vetements cool und Miu Miu bezaubernd, ich liebe Marques‘ Almeida, aber heimlich träume ich von einem Chanel-Kostüm. Und ich soll Stil haben?“ Stil ist eine Frage von Persönlichkeit und Selbstbewusstsein, das habe ich mittlerweile verstanden. Das allerdings erklärt auch, warum nicht nur für die Fabrikation einer Steuererklärung, sondern auch für den gekonnten Griff in den Kleiderschrank geistige Reife vonnöten ist.

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Foto: Julia Zierer

Wie weit ich mit meiner geistigen Reife bin, konnte man sich in diesem Jahr übrigens anhand so mancher Outfits fragen: im Februar spazierte ich in Latzhosen und Häkelkleid durch den Wedding, jenen Berliner Stadtteil, dem die New York Times schon 2015 seinen großen „moment“ prophezeite. Einige Monate später stand ich um 5 Uhr morgens in Trenchcoat und Taucherbrille an der Siegessäule, dazu schrieb ich ein Plädoyer für’s Frühaufstehen. Dann kam der Sommer und ich war so frei, im Badeanzug ins Büro zu gehen, was meinen Arbeitskollegen nicht entgangen sein kann. Gefeuert wurde ich trotzdem nicht. War das also gar nicht so unangemessen, wie ich hinterher dachte? Und wenn doch: wie geht denn überhaupt angemessenes Anziehen?  Zwei Monate später saß ich in einem gewagt geschlitzten Rock auf einem Kletterbaum und verschwendete keinen Gedanken mehr an modischen Anstand. Ich bin zwar nicht erwachsen, aber ich fühle mich schon sehr wohl in meiner Haut. „Macht“, schrieb ich dazu in der Modeausgabe des ZEITmagazins, „strahlt man erst dann aus, wenn man die Angst davor ablegt, man selbst zu sein.“ Stickt euch das auf die Unterhosen. 75020012Natürlich habe ich mich in diesem Jahr nicht nur mit Klamotten beschäftigt. Dafür waren die letzten zwölf Monate definitiv zu nervenaufreibend. Im April flog ich nach Brasilien, um meinen Geburtstag endlich mal am Strand zu feiern. Daraus wurde nichts, weil es an meinem Geburtstag zu regnen anfing, aber das war nicht weiter schlimm. Brasilien machte so viel Spaß, dass ich mich zwischendurch sogar fragte, ob mir das „echte“ Brasilien womöglich entging: „Müssten wir nicht wilder, echter, authentischer urlauben?“, zweifelte ich. „Müssten wir uns nicht mehr anstrengen, diesem Land hinter die Fassade zu schauen? Müssten wir nicht gerade ausschließlich mit Rucksack bekleidet durch den Regenwald stapfen, mal in einer Favela vorbeischauen, eine brasilianische Zeitung lesen, mit Straßenkindern Samba tanzen oder in einem ortstypischen Restaurant eine seltene Variation von Feijoada essen?“ Entspannen konnte ich mich erst, als ich am Strand von Ipanema auf die gezackten Zwillings-Gipfel schaute, ein kaltes Bier in der Hand, die Füße im Wasser, und begriff, dass es manchmal nichts Schöneres geben kann, als mitten drin im herrlichsten Tourismustraum zu sitzen.img_5125Im Juni verpasste ich einen Flugweil die Deutsche Bahn, mein Feindbild des Jahres, es versäumte, ihre Fahrgäste an diesem schnee- und eisfreien Sommertag zum Airport zu befördern. „Haben Sie nicht die Aushänge gesehen?“, fragte mich die Schaffnerin entgeistert, als ich fragte, was denn mit dem Airport-Express passiert sei. Das habe ich in diesem Jahr gelernt: erwachsen ist, wer Aushänge stets aufmerksam zur Kenntnis nimmt. Auf der anderen Seite lehrte mich der verpasste Flug auch etwas über Deutschland: so leidenschaftslos, wie ich dieses Land immer fand, ist es gar nicht. Von den freundlichen Damen im Duty-Free-Shop, die mir auf den Schock ein Glas Whiskey ausgaben, werde ich noch meinen Enkelkindern erzählen.

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Illustration: Gretchen Roehrs

Außerdem kann einen dieses besondere Jahr 2016, das in vielerlei Hinsicht besonders schrecklich war, ja auch nur Demut lehren. Das fiel mir ein, als ich an Heiligabend mit meinen Eltern und meiner Schwester unterm Weihnachtsbaum saß, „O du Fröhliche“ sang und dem Hund beim Zerfetzen seines neuen Plüschtieres zusah: was für ein unglaubliches Glück ich eigentlich habe, mich mit verpassten Flügen und S-Bahn-Kontrolleuren herumschlagen zu dürfen, und nicht mit wirklichen Problemen. Klar, Luxusprobleme sind auch Probleme, und ich habe mich auch in diesem Jahr immer wieder gern mit ihnen auseinandergesetzt: in einem ausführlichen Gespräch stellten die Münchner Autorin Mercedes Lauenstein und ich fest, dass Schreiben weh tut und es für gute Ideen kein Rezept gibt. Die Biomarkt-Falle hielt mich fest in ihren Klauen, eine neue Epidemie namens Sprachnachricht griff um sich, die heiße Dusche wollte ich niemals ausstellenund die Modebloggerinnen kultivierten die nutzlos in der Luft schwebende Hand. 

All das sind keine Lappalien, im Gegenteil: die kleinen Probleme sagen viel über den Zustand des großen Kollektivs aus. Und es macht ja auch immer wieder Spaß, sich gemeinschaftlich über sie aufzuregen. Aber im Vergleich zu dem, was in diesem Jahr alles in der Welt passiert und unschuldigen Menschen zugestoßen ist, haben wir kleinen Besserbürger es doch ziemlich gut getroffen. Vielleicht zu gut?fullsizerender-4

Als am Tag vor der US-Wahl Pegida-Anhänger vor meiner Haustür demonstrierten und die Nationalhymne sangen, dämmerte es mir, dass ich mit meinem Biogemüse und meinen Designerklamotten und meinen studierten Freunden möglicherweise ganz schön weit hinterm Mond wohne. Als ich am 8. November abends ins Bett ging, war ich mir nicht mehr so sicher, dass Hilary Clinton die Wahl gewinnen würde. Und dann verlor sie, denn das Leben ist kein Instagram-Feed. „Was“, fragte ich mich am Tag danach entsetzt und zum ersten Mal in meinem Leben ernsthaft beunruhigt, „ist mir bloß entgangen?“

Ich bin immer noch  nicht erwachsen, ich bin immer noch ahnungs- und orientierungslos, leichtsinnig und naiv, habe weder meine Finanzen noch mein Temperament so richtig unter Kontrolle. Aber wenn ich in diesem Jahr etwas gelernt habe, dann das: Man kann sich nie genug über das freuen, was man hat. Als am 11. September 2001 die Türme des World Trade Centers einstürzten, war ich sieben Jahre alt. Ich verstand, dass etwas Schlimmes passiert war, aber ich war viel zu jung, um so beunruhigt zu sein wie meine Eltern. Ich glaubte, in einer sicheren Welt aufzuwachsen. Ich glaubte, die Erwachsenen würden das schon wieder hinbiegen. Kriege kannte ich aus dem Geschichtsunterricht. In diesem Jahr, in dem ein Schrecken den nächsten jagte, habe ich erstmals bei vollem Bewusstsein realisiert, dass „das Gute“ tatsächlich angegriffen und verletzt werden kann. Für meine Generation ist das spätestens seit der Trump-Wahl eine neue Erkenntnis: die Welt und die Gesellschaft, in der wir leben, ist fragil, und es kostet viel Kraft, um sie zu schützen.

Das ist kein Grund, zu jammern. Im Gegenteil: es ist ein Grund, zu kämpfen, seine Werte zu verteidigen, und dabei dankbar zu sein für die noch so kleinen Momente, die einem das Leben beschert. „Manchmal hilft es schon, sehr laut zu singen“, schrieb ich in meiner „Anleitung zur Alltagsflucht“. So wenig das nach Erwachsensein klingt – vielleicht war es meine reifste Erkenntnis in diesem Jahr.tumblr_nrshxgrm5y1qafi93o2_1280