Foto links: Harley Weir für i-D
Mein ganzes Leben lang habe ich Frauen bewundert, die sich selbst einen Zopf flechten können. Ich saß in Klassenzimmern und Vorlesungssälen hinter ihnen und beobachtete fasziniert, wie sie mit routinierten Handgriffen drei Haarstränge verwoben, ein Gummi ans Ende banden und den fertigen Zopf dann nach hinten warfen, so lässig, wie man eine ausgelesene Zeitung vom Sofa wirft. Diese Bewegung fand ich immer am tollsten, diese Das-hätten-wir-erledigt-Resolutheit des Zopfzurückwerfens. Es lag etwas Mächtiges, Überlegenes darin. Frauen mit Zöpfen können für den Rest des Tages aufhören, sich um ihre Haare Gedanken zu machen. Sie können mit Zopf die Wohnung streichen, eine Gehaltsverhandlung führen, ein Kind zur Welt bringen, ihr Haar wird dabei immer gut aussehen und ihnen trotzdem nicht im Weg sein.
Ich hatte mein ganzes Leben lang immer kurze Haare, deshalb konnte ich mir erstens nie selbst beibringen, wie man am eigenen Kopf einen Zopf flicht, und fummelte zweitens von morgens bis abends an meinen Haaren herum. Ich band sie zusammen, ich schüttelte sie nach links und rechts, ich warf sie nach vorne und nach hinten, ich fixierte sie mit Spangen. Irgendwann hatte ich genug und ließ mir die Haare wachsen. Eines Tages saß ich am Strand und flocht mir gedankenverloren einen Zopf – plötzlich konnte ich es, einfach so, als hätte mir meine neue Mähne ins Ohr geflüstert, wie es geht.
Mein Leben ist seither einfacher geworden. Ich bekomme viel mehr auf die Reihe. Ich lese mehr Bücher, ich schreibe bessere Texte, ich repariere Sachen in der Wohnung. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine neu erworbene Fähigkeit, mir selbst einen Zopf zu flechten, damit zusammenhängt.
Das führt mich zu Greta Thunberg. Wie jedes Kind weiß, trägt Greta Thunberg einen Zopf. Als sie anfing, für den Klimaschutz zu demonstrieren, waren es noch zwei Zöpfe, aber zwei Zöpfe zu flechten dauert doppelt so lange, wie einen zu flechten, und Greta hat viel zu tun, deshalb, so meine Vermutung, ist sie nun auf den Solo-Zopf umgestiegen. Greta hat mit diesem Zopf auf der Straße kampiert, sie hat sich damit für i-D und Vogue fotografieren lassen, und sie ist damit über den Atlantik gesegelt, um den Politikern bei den Vereinten Nationen eine Standpauke zu halten. Als sie nach zwei Wochen auf dem Wasser in New York vom Boot stieg, war ihr Zopf feucht und fisselig, er sah so aus, als hätte sie ihn zwei Wochen lang gar nicht aufgemacht.
Ich finde nicht, dass Greta Thunberg eine besonders gute Rednerin ist. Ihre Sätze klingen oft entweder vage oder gestelzt. Ihre Überzeugungskraft liegt viel eher in ihren Gesten: dem Streiken, dem Über-den-Atlantik-Segeln. Einen Großteil ihrer Macht vermute ich in ihrem Zopf.
Greta sieht mit diesem Zopf aus wie die brave Gretl, die sich mit Hänsel im Wald verlaufen hat. Andere Aktivisten der Gegenwart setzen mit ihren Haaren auf Provokation: Störenfried Rezos Schopf ist blau, das Haar der Anti-RWE-Demonstrantin Cornelia Wockel raspelkurz, die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete trägt Dreadlocks. Mit diesen Frisuren positionieren sie sich klar und deutlich als Systemgegner, mit denen nicht zu spaßen ist.
Greta dagegen hat schöne, lange Haare, das sah man bei ihrer letzten Begegnung mit Barack Obama besonders gut, als sie ausnahmsweise mit gekämmtem Pferdeschwanz aufkreuzte. Gretas Äußeres provoziert nicht. Greta sieht aus wie eine gepflegte kleine Streberin. Das verleiht ihrer Erscheinung etwas Harmloses – ach, da kommt wieder die Gretl, sieht sie nicht niedlich aus, sagen die Leute und nicken wohlwollend und vergessen dabei ganz, dass es auch die Märchen-Gretl faustdick hinter den Ohren hatte und die böse Hexe am Ende in den Ofen schob. Darin liegt die Macht des Gretazopfes.
Aber nicht nur darin. Greta hat sich mit dieser Frisur auch ein Markenzeichen geschaffen, das sie nun konsequent trägt. Sieht man heute irgendwo einen langen, aschblonden Zopf, denkt man wahrscheinlich sofort an Greta Thunberg – so wie man beim Anblick eines Topfschnitts mit Pony an Angela Merkel denkt oder beim Bob mit Sonnenbrille an Anna Wintour. Seit Ewigkeiten tragen diese Frauen die immergleiche Frisur, deshalb assoziiert man sie so sehr damit. Weil sie ihre Haare nie ändern, vermitteln sie aber auch Stabilität. Die ersten fünf einflussreichen Frauen, die mir spontan einfallen, tragen ihr Haar seit Jahren unverändert: Christine Lagarde (kurz, weiß, geföhnt), Suzy Menkes (mit Tolle), Sheryl Sandberg (glatt, schulterlang, braun), Alice Schwarzer (gestuft, blond, Pony), Ariana Grande (glatte Assipalme, polang).
Es ist nicht so, dass sich diese Frauen gar keine Gedanken um ihre Haare machen. Bestimmt stehen sie morgens extra früher auf, um sie zu föhnen, zu glätten oder zu flechten. Was sie nicht tun, ist, jeden Tag aufs Neue damit herumzuexperimentieren – sie nach links oder nach rechts zu schütteln, nach vorne oder nach hinten zu werfen, zusammen zu binden, offen zu tragen, mit Spangen zu fixieren. Sie tun das Gegenteil von dem, was Frauenmagazine seit Jahrzehnten empfehlen: Probieren Sie doch mal Beach Waves/French Braids/kurze Haare wie Kaia Gerber/gelbe Haare wie Hailey Bieber/gar keine Haare wie Natalie Portman! Ich meine, was fällt diesen Magazinredakteurinnen ein? Nichts vermittelt weniger Souveränität, als sich alle drei Wochen eine neue Frisur zuzulegen. Würden sie es gut mit ihren Leserinnen meinen, so wie ich, dann hätten sie nur einen einzigen sinnvollen Tipp zu vergeben: Lernt Zöpfeflechten.