Früher waren sie Götter

WIE ICH ERWACHSEN WURDE, UND WAS MEINE ELTERN DAMIT ZU TUN HABEN

Bei der Europawahl an diesem Sonntag werde ich zum ersten Mal für eine andere Partei stimmen als meine Eltern. Zugegebenermaßen war ich kurz ein bisschen bestürzt, als mir der Wahlomat mein Ergebnis anzeigte. Jetzt ist es also offiziell, dachte ich: Ich bin mit meinen Eltern nicht mehr in allem einer Meinung.

Für viele Leute mag das Normalität sein, für mich ist es ein kleiner Schock. Dabei habe ich es schon länger gespürt wie einen aufkommenden Wind. Plötzlich stritt ich mich mit meinem Vater über Dinge wie Graffiti und Sozialpolitik. Mit meiner Mutter artete eine Diskussion über die Gleichberechtigung derart aus, dass ich vor lauter Wut in Tränen ausbrach. In grundlegenden Dingen sind wir uns natürlich immer noch einig: dass Trump ein Idiot ist, zum Beispiel, oder dass die zehn Gebote ein guter moralischer Kompass fürs Leben sind. Aber trotzdem. Früher waren meine Eltern für mich Götter.

Ich habe meinen neuen Sinneswandel erst als eine sehr späte Pubertätsnachwehe interpretiert, vielleicht sogar als die tatsächliche, endlich nachgeholte Pubertät, schließlich hatte ich als Teenager, abgesehen von meiner angeborenen Dickköpfigkeit, gar keine komischen Launen. Ich durfte mehr oder weniger tun und lassen, was ich wollte, fand meine Eltern cool und sah deshalb überhaupt keinen Grund, gegen sie zu rebellieren. Aber irgendwann musste es ja passieren!

Tatsächlich hat die zunehmende Distanzierung von den Weltanschauungen meiner Eltern nichts mit spätkindlichem Aufbegehren zu tun. Im Gegenteil: Seit ich festgestellt habe, dass meine Eltern nicht – wie bisher angenommen – immer in Allem richtig liegen, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, erwachsen zu sein.

Dieses Gefühl ist komisch. Es macht mich stolz, aber es tut irgendwie auch weh. Neulich haben mir meine Eltern eine Email aus dem Urlaub geschrieben; nachdem ich in unseren letzten Telefonaten immer wieder von meiner aktuellen Orientierungslosigkeit erzählt hatte, hatten sie sich lange Gedanken dazu gemacht und präsentierten mir nun einen ausführlichen Plan. Eine Empfehlung natürlich, keine Anweisung – trotzdem machte mich die Email für einen Moment fast wütend. Denn was sie mir da vorschlugen, war nun wirklich nicht das, was ich als nächstes tun wollte. Ich hatte das Gefühl, meine Eltern würden sich in etwas einmischen, von dem sie gar keine Ahnung haben.

Nachdem die Wut verschwunden war, kam die Trauer. Ich fing fast an zu weinen. Ich fühlte mich schlecht. Wie konnte ich mich nur über so liebevolle, immer um mein Glück besorgte Eltern ärgern! Ich bin eine schreckliche, undankbare Tochter, dachte ich.

Diese Gefühlsachterbahn – erst Gereiztheit, dann Beschämung und Trauer – habe ich mit meinen Eltern in den letzten Jahren recht oft erlebt. Ich glaube auch, dass sie typisch ist. In dem Film „Toni Erdmann“ gibt es eine Szene, die mich tief berührt hat: Nachdem der Vater der Hauptdarstellerin, einer dauergereizten Unternehmensberaterin, die in Bukarest lebt und nie Zeit für ihre Familie hat, nach einem Spontanbesuch abreist, steht sie auf dem Balkon ihrer Wohnung, schaut ihm nach – und fängt an zu weinen. Eben war sie noch genervt von ihrem Vater, der einfach so ohne Ankündigung aufgetaucht ist. Und jetzt, wo sie ihn gehen sieht, grämt sie sich, ihm gegenüber nicht liebevoller und toleranter gewesen zu sein.

Die Szene hat mich berührt, weil sie mir bekannt vorkam. Ich bin von meinen Eltern schneller genervt als von Menschen, die mir nicht so nahe stehen. Gleichzeitig finde ich es viel furchtbarer, mich mit meinen Eltern zu streiten als mit anderen Menschen. Es gibt eine schreckliche Internetseite namens See your folks, auf der man das Alter beider Elternteile und die ungefähre Anzahl seiner jährlichen Zusammenkünfte mit ihnen eingibt, und daraufhin rechnet einem die Seite aus, wie viele Male man seine Eltern noch sehen wird, bevor sie sterben. Bei mir kam 294 raus. 294, das ist weniger, als ein Jahr Tage hat! Da will man sich doch nie wieder mit seinen Eltern streiten. Man möchte nur noch lieb und großzügig zu ihnen sein, ihnen jeden Fehler nachsehen und so oft es geht Blumen schicken.

Aber die Panik, die eine solche Zahl auslöst, setzt natürlich auch total unter Druck. Wenn man jede Auseinandersetzung mit seinen Eltern scheut, weil man weiß, dass die Zeit mit ihnen noch begrenzter ist als die mit den meisten anderen seiner Mitmenschen, dann verpasst man damit nicht nur einen wichtigen Schritt zum Erwachsenwerden. Es entgeht einem noch etwas anderes: das Glück, seinen Eltern endlich auf Augenhöhe zu begegnen.

So fühlt sich das Verhältnis zu meinen Eltern nämlich heute für mich an. Ich bin ihnen gegenüber nicht mehr das unwissende Kind. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen, weil ich mittlerweile selbst einschätzen kann, was für mich richtig ist. Die neue Augenhöhe, auf der wir uns dadurch begegnen, verleiht mir eine neue Unabhängigkeit – aber sie gibt auch meinen Eltern etwas von dem Raum zurück, den sie vor 28 Jahren aufgegeben haben, als ihr erstes Kind zur Welt kam; einen Raum, den wir Kinder seitdem ganz selbstverständlich mit unseren Bedürfnissen beansprucht haben, ohne uns wirklich dafür zu interessieren, wie es eigentlich unseren Eltern dabei ging.

Jetzt, wo ich mit meinen Eltern nicht mehr in allem einer Meinung bin, möchte ich plötzlich ganz viel über sie wissen. All die Jahre habe ich mich nie wirklich dafür interessiert, wo sie eigentlich wirklich herkommen, was sie in ihrem Leben geprägt und gezeichnet hat. Ich war ja das Kind, der Job meiner Eltern war, auf mich aufzupassen, und damit hatten wir als Familie irgendwie schon genug Gesprächsstoff. Ich finde, mit dem Erwachsenwerden kommt auch die Verantwortung, sich seinen Eltern so aufmerksam zuzuwenden, wie sie sich immer einem selbst zugewandt haben. Meine Eltern sind keine Götter. Sie sind Menschen. Darin liegt unsere große Gemeinsamkeit.

Vor ein paar Wochen hat mir eine Freundin erzählt, dass ihre Mutter ihr überraschend ihr Herz über ihre Eheprobleme ausgeschüttet habe. Sie hätten mehrere lange Gespräche darüber geführt, und dabei habe sie, die Tochter, zum ersten Mal das Gefühl gehabt, ihrer Mutter etwas zurückgeben zu können für all die Jahre elterlicher Selbstaufopferung: ein offenes Ohr, eine Schulter zum Ausweinen, sogar einen Rat.

Ist das Autoritätsgefälle zwischen Eltern und Kind verschwunden, dann stehen sich plötzlich zwei erwachsene Menschen gegenüber, der eine etwas älter als der andere, aber beide mit den gleichen Bedürfnissen nach Schutz, Orientierungshilfe und Anerkennung. Diese neue Begegnung ist wunderbar. Es bringt Eltern und Kind nicht auseinander, wenn das Kind andere Meinungen annimmt. Ich glaube, wenn man es gut anstellt, wenn man die Differenzen als Bereicherung empfindet und respektvoll miteinander umgeht, dann bringt es sie eher zusammen.