Neulich gingen mein Hund und ich spazieren. Dort, wo die Straße zum Waldweg wird und roter Klinker nadelnden Tannen weicht, steht ein Haus, an dem ich seit meinen frühen Kindertagen regelmäßig vorbeikomme. Früher wohnte dort ein Greis, der, ganz klischeehaft, den ganzen Tag halbversteckt hinter einem Vorhang am Fenster lauerte und vorüber flanierenden Passanten mit dem geschwungenen Griff seines Gehstocks zuwinkte, was ich persönlich immer als latent bedrohlich empfand. Irgendwann verschwand der Senior, irgendein Bauunternehmer schnappte sich das Grundstück, und heute steht dort ein glattes, gerades Haus aus roten Fertigsteinplatten im braven Finca-Stil, mit linientreu angelegtem und saftig grün gedüngtem Vorgarten, das Gras so ebenmäßig gemäht, ich hätte es mit meiner Nagelschere nicht besser hinbekommen.
In diesen Vorgarten ragt nun neuerdings, sauber und ebenmäßig in die penibel gepflegte Grünfläche hinein, ein angebauter Glaskubus. In diesem Glaskubus steht eine hölzerne Gartenliege, und darauf thronte nun, als Hund und ich neulich vorbeikamen, der Hausherr dieser imposanten Anlage, herrliches Exempel klassisch-deutscher Spießbürgerlichkeit. Man könnte diesen gläsernen Würfel natürlich auch, klassisch-deutsch, Wintergarten nennen. Aber das würde der ursprünglichen Idee des Dings wohl kaum gerecht werden. Wie der Herr dort in seinem Glashaus saß, umgeben von gläsernem Nichts, einem kalten, modernen Garnichts, nicht einmal irgendeiner gruseligen Zimmerpalme, musste mir die Assoziation Glashaus=Wintergarten auf der Stelle sinnlos erscheinen. Ein Wintergarten ist schließlich, wie der Name schon sagt, ein in den überdachten Wohnraum eingeschlossenes Stück lebendiger Gartennatur, ein lichtdurchfluteter Ort wohliger Gemütlichkeit bei gleichzeitig höchstmöglicher Nähe zur gedeihenden Pflanzenwelt vor der Terrassentür.
In besagtem Glaskubus herrschte hingegen eine beeindruckende Leblosigkeit. Selbst Schneewittchens durchsichtiger Sarg muss wohnlicher gewesen sein als jenes gläserne Objekt kristallklarer Kälte. Und doch kann ich den Mann, dem ich solch ein Stück neumoderner Architekturkunst in seiner Spießbürgerlichkeit gar nicht zugetraut hätte, und der dort sicher mit Frau und Kind haust, die hin und wieder vielleicht auch einmal jenes neu annektierte Bauelement nutzen werden, zum Beispiel als Aussichtsplattform in die glattgemähte Vorgartentristesse, verstehen. Schließlich sitzen wir heute doch fast alle in Glashäusern, Architekten entwerfen eisig-blau glänzende Bauten aus stahlgestützten Glasflächen, jedes neu entstehende Bürohaus scheint zu 95 Prozent aus Glas zu bestehen, und wem das zu teuer oder zu kompliziert zu Reinigen ist, der lässt sich eben große Fenster einbauen, die sind schließlich auch aus Glas. Ich finde Glashäuser toll. Wenn ich groß bin, möchte ich auch in einem Glashaus wohnen.
Aber sitzt nicht sowieso, wer (noch) nicht im Glashaus sitzt, trotzdem im Glashaus? Ist nicht unsere ganze Welt ein einziges Glashaus geworden, vielleicht sogar, ganz neumodern, ein Glashaus aus Vergrößerungsgläsern?
Ich weiß nicht, wer das Glashaus erfunden hat, und ich weiß auch nicht, wann dieser Irgendwer das Glashaus erfunden hat. Und warum wir gerne in Glashäusern sitzen, das vermag ich ebenso wenig zu sagen, ich weiß nur, dass wir heutzutage mithilfe all unserer persönlichen gläsernen Fassaden, aufrecht erhalten durch ein offensichtlich nahezu manisches Mitteilungsbedürfnis, regelrecht danach streben, andere Leute nicht nur in unsere Vorgärten, sondern bis in unsere intimen Räumlichkeiten hinein spähen zu lassen. Stellte das Eigenheim früher aufgrund seiner privaten Abgeschlossenheit die oberste Sprosse der Karriereleiter dar, so ist es heute zu einem gläsernen Kubus geworden, den sich sogar ein Spießbürger anbauen lässt, um zu sagen: schau her, auch ich sitze im Glashaus, so wie du, der du zwar noch in einer Altbauwohnung mit defekter Heizung wohnst, dank unserer gläsernen Welt aber dennoch längst das ganz große, das universelle Glashaus, deine ganze Privatesse und Intimität dank bestimmter Plattformen und Handy-Applikationen und einem generell eklatanten Sendungsbedürfnisses exponierend, betreten hast.
Ich frage mich: Wird es jemals zum Eklat kommen? Wie viel Glashaus tut uns Menschen gut? Werden wir je wieder in Holzhäusern mit Milchglasfenstern sitzen wollen? Oder werden die Vergrößerungsgläser unserer Glashäuser den Einblick ins Private bis in noch höhere Maximen schärfen, werden wir am Ende auch gläserne Wände in unsere Häuser integrieren, und gläserne Toilettentüren, und gläserne Klobrillen?
PS: Ich weiß, ich sitze selbst im Glashaus, und wer im Glashaus sitzt, der soll nicht mit Steinen werfen.