Samstags in der Potse

HIER TUT SICH WAS: EIN AUSFLUG ZUR POTSDAMER STRAßE, BERLIN


Die gute Nachricht vorweg: in der Potsdamer Straße gibt es auch Frozen Joghurt. Und vietnamesische Bánh mì, Berlin-Mittes (nicht mehr so) neues Lieblingsessen. Man muss sich hier, zwischen Potsdamer Platz und dem Autostrich der Kurfürstenstraße, nur damit arrangieren, dass vor den Lokalen keine schicken langen Holztische stehen, an denen man gemeinschaftlich mit anderen hippen Leuten sitzt und unerwünschterweise deren Start-Up-Konferenz belauscht. Bio-Limonade für drei Euro fünfzig und Demeter-Bagel mit glücklichem Käsebelag scheinen hier ebenso ein Fremdwort, stattdessen locken Spelunken wie die Pohl-Kneipe  mit „Be happy-go lucky“-Schildern und aufreizender Lichterkettendekoration an der Fassade.

Auch wenn sich bestimmte Berliner Bezirke seit einigen Jahren gerne mit gut aussehenden Kreativbürgern, gentrifizierten Altbauwohnungen und gestylten Deli-Imbissen schmücken, ist diese Stadt doch eigentlich, im tiefsten Inneren, dem leicht Schäbigen, sympathisch Skurrilen, ein bisschen Zwielichtigen verbunden. Die „Potse“, kurz für Potsdamer Straße und Umland, bietet derzeit alle drei Eigenschaften und hat sich damit zum neuen Hotspot der Hauptstadt gemausert – was, wohlgemerkt, in Berlin bedeutet: hier tut sich was, hier wird es schick, aber bisher hat’s noch kaum einer so wirklich mitbekommen.

Als einer der Ersten zog Andreas Murkudis mit seinem Sortiment edelster Zwirne, Schönheitsprodukte, Möbel und Bücher in eine stillgelegte Lagerhalle in der Potsdamer Straße, die, ganz nach Berliner Art, nur über einen staubigen Hinterhof zu erreichen ist. Seitdem pilgern immer mehr Hauptstädter, Modeinteressierte und Kulturfreunde in diese Gegend, doch selbst an einem sonnigen Samstagnachmittag ist es hier noch immer angenehm ruhig, trotz vorbeiknatternder Autos und Motorräder. Die Touristen und Hipster treiben sich zum Einkaufen eben lieber auf der Torstraße herum.

Spielcasino und Maultaschen-Manufaktur, sandsteinerne Wohnhäuser aus der Zeit um die Jahrhundertwende, gediegene Stuckbauten und das 1992 neu eröffnete Varieté-Theater im Stil der 30er Jahre, authentisch mit roten Lettern und blinkenden Lampions ausgestattet – in ihrer vertrockneten Schäbigkeit offenbart die Potse eine ganz eigene Eleganz und Gediegenheit. So überrascht auch der herrliche Rokoko-Innenhof mit Springbrunnen und Kletterrosen hinterm schmiedeeisernen Eingangstor, irgendwo zwischen asiatischem Trash-Geschäft, Kunstgalerie und dem Reading Room von Do you read me!? gelegen. Ebenso wie Andreas Murkudis lockt letzterer mit idyllischer Oasen-Atmosphäre und feinsten Produkten: „Die Kunst, ein kreatives Leben zu führen“ liegt neben Titeln wie „Rural Life“ und „Berlin inspires“, Grace Coddington’s Memoiren und das neue Foam-Magazine kann man in aller Ruhe am großen Holztisch sitzend querlesen – da kommt sogar Mitte-Feeling auf, nur irgendwie authentischer, entspannter, noch unerkannt hip.
Stadtbezirke erkunden und Modemagazine schmökern macht hungrig, deshalb liegt ein paar Hausnummern weiter, fast schon bedenklich nah an der zwielichtigen Kurfürstenstraße, das Queens of Muffins, eine empfehlenswerte Adresse für alle jene Potse-Touristen, die der unscheinbaren Fassade des vorher erwähnten Bành-mì-Delis irgendwie nicht über den Weg trauen wollen. Das Queens of Muffins trägt seinen Namen zu Recht: hier verzehre ich den besten Blaubeer-Muffin seit meinem Umzug in die Hauptstadt. Dagegen kann das Barcomi’s mit seinen dreimal aufgebackenen und doppelt so teuren Minikuchen einpacken. Für den herzhaften Appetit spaziert man die Pohlstraße hinab: vor der Weinbar Les Climats laden weiße Holzstühle und Metallwannen mit grünem Wuchs zum déjeuner oder diner ein, auf der Speisekarte stehen französische Klassiker wie Bœuf bourguignon und Quiche Lorraine. Die berühmte Victoria Bar ist nicht weit, nur für den Fall, dass man nach dem Essen noch den ein oder anderen Digestif stürzen möchte.
Tatsächlich ist die Potsdamer Straße fescher, als es auf den ersten Blick erscheint, und Fiona Bennett, die berühmteste Hutmacherin der Stadt, sitzt hier mit ihrem Atelier seit 1999. Doch der Charme des Stadtbezirks offenbart noch immer diese gewisse Ambivalenz, dank der Berlin Weltruhm erlangt hat, die Vierteln wie Mitte oder Kreuzberg jedoch mehr und mehr flöten zu gehen scheint – weil dort der Bruch fehlt, der Kontrast zwischen schick und schäbig, ordentlich und berüchtigt, sauber und schmutzig. Denn ist der Besuch einer Designerboutique oder Weinhandlung nicht vielfach interessanter und abenteuerlicher, wenn man diese erst zwischen Auto-Werkstatt und Spielcasino, umringt von Platte und Rokoko, finden muss?