„Ameisen sind das Steak der Zukunft“

EIN BESUCH IM RESTAURANT "NOMA" IN KOPENHAGEN
Gang Nr. 13: „Dried scallops and beech nuts, biodynamic grains and watercress“

„Diese Himbeeren“, sagt der Kellner und lächelt gewinnend, „wurden vor eineinhalb Stunden von Hand für Sie in unserem Wald gepflückt. Enjoy.“ Dann entschwindet er wieder zurück in die großräumige Küche, hinter deren lautlos schließenden Glastüren rund zwei Dutzend konzentriert wirkende junge Köche über Kunststoffbassins und Bottichen voller Kräutern und Gemüse werkeln. Gespannt beuge ich mich über das kleine Tontöpfchen, das da vor mir auf dem Tisch hockt. Irgendwas kann mit diesen Himbeeren nicht stimmen. Schließlich sind wir heute im „Noma“, dem besten Restaurant der Welt. Da wird man uns doch wohl nicht bloß ein Häuflein Waldobst vorsetzen.

Für gewöhnlich muss man im „Noma“ mindestens sechs Monate im Voraus reservieren, um auch nur in die Nähe einer der heißbegehrten Tische zu gelangen. Ich bin zur Modewoche nach Kopenhagen eingeladen, und wenn die Dänen zur Pressereise bitten, dann aber richtig. Der Abschlusslunch findet eben im „Noma“ statt, wobei die Bezeichnung lunch eigentlich eine Beleidigung ist für das zwanziggängige Menü, das wir hier nun in den folgenden viereinhalb Stunden verkosten werden. Vielleicht ist es auch beleidigend, dass wir als große Gruppe von zwölf Leuten aufgetaucht sind. Denn gelten Sterne-Restaurants dieser Art nicht als Orte des reinen Genusses, der Degustation höchster Kulinarik – und nicht als Anlaufstelle für muntere gesellschaftliche Zusammenkunft?

Im „Noma“ sind sie nicht so streng. Ganz im Gegenteil. Im Grunde hat dieses Restaurant mit anderen Gourmet-Tempeln vergleichbarer Preisklasse ohnehin nicht viel gemein. Der frische Wind Kopenhagens weht auch hier zur Tür herein, weshalb man bei der Ankunft erstmal am Outdoor-Kohleofen vorbeigeführt wird, auf den rustikalen Holztischen keine Tischdecken liegen, aus den Lautsprechern lässiger Fahrstuhljazz tropft,  die charmanten Service-Kräfte wie alle anderen Dänen auch zum Anbeißen aussehen und man sich hier, rein atmosphärisch betrachtet, ebenso gut auch im Zweitwohnsitz eines großstädtischen Grafikdesigners befinden könnte. Im „Noma“ wollen sie, dass man sich beim Essen wohl fühlt, es soll natürlich zugehen. Natur, das ist hier das Zauberwort.

Gang Nr. 5: „Wild raspberries and pea flower“

Zurück zu den Himbeeren: die sind natürlich nicht die erste Speise, die man uns auftischt. Das wäre ja zu simpel. Nein, der erste Gang war eine geeiste Johannisbeere auf einem scharf gespitzten Zahnstocher aus Kiefernholz. Ich bin versucht zu fragen, ob letzterer mitverspeist werden soll. Und wer wohl von den 53 Köchen für das Anspitzen jener Spießchen verantwortlich ist? Das Lachen bleibt uns im Halse stecken, als drei große Platten mit je vier ausgewachsenen Kohlrabi-Rüben, komplett mit Blättern und Stengeln wie Gott sie erschuf, auf den Tisch gestellt werden. „Die nordische Kokosnuss“, lautet Kellners Kommentar, alles Weitere dürfen wir selbst herausfinden. Durch einen Strohhalm aus Sellerie schlürfe ich ein kühles Rübensüppchen, und an dieser Stelle erfahren wir, was es mit dem Namen „Noma“ auf sich hat: das Kürzel steht für nordisk („nordisch“) und mad („Essen“). Auf den Tisch kommt, was die Flora und Fauna Dänemarks so alles hergeben. Insofern ist die Bezeichnung „Nordic coconut“ mit besonderer Ironie gewürzt: eine echte Kokosnuss würde hier nie serviert werden. Dafür schmeckt das Rübensüppchen besonders frisch, ob Kohlrabi und Kokos nicht doch verwandte Gemüsesorten sind? Ach nein.

Als Kind begeisterter Restaurantbesucher, die sich für einen Besuch im „Aqua“ sogar ein ganzes Wochenende freihalten, habe ich die Haute Cuisine früh kennen lernen dürfen. Im Alter von sechs Jahren verspeiste ich zum ersten Mal ein Stück Kaninchenterrine. Das darf man dekadent finden, andererseits gönnt sich doch jeder hin und wieder eine bestimmte Art von Luxus. Während sich andere Leute einen Schrebergarten oder ein Loft in City-Lage leisten, haben mich meine Eltern eben gern zur Degustation von Entenstopfleber und Himbeersorbet mitgeschleift. Ich wage also zu behaupten, mich mit der hohen Kochkunst einigermaßen auszukennen. Mein Vater guckt neidisch, als ich erzähle, dass in Kopenhagen auch ein Besuch im „Noma“ auf dem Programm steht. Und ich? Fürchte mich vor den Ameisen. Mit denen muss man nämlich, das habe ich gelesen, rechnen, wenn man im besten Restaurant der Welt einkehrt. Aber wir wollen ja nicht krüsch sein. Am Ende sind vielleicht sogar die Ameisen der Schlüssel zu Rene Redzepis Welterfolg – wobei es auch zu hinterfragen gilt, wie man ein einziges Restaurant eigentlich ernsthaft auf diesen Thron heben kann.

Bis die berüchtigten Ameisen endlich auf den Tisch kommen, müssen wir uns noch ein wenig gedulden. Vorher folgen elf andere Gänge, zehn davon sind Vorspeisen, im Grunde eine Übertreibung für die Winzlingshappen auf den Tontellern. Umso reichhaltiger ist die Vielfalt an nordischen Produkten, von denen ich nicht einmal im Traum ahnte, wie gut man sie eigentlich essen kann. Der nächste Waldspaziergang wird ein kulinarisches Ereignis, aber so was von. Luftig gepufftes Moos wird mit gehobeltem Steinpilz bestäubt und mit hausgemachter Mayonnaise bestrichen. Knusprige Rosenblätter kommen auf Knäckebrot, eine Käseknödel, gefüllt mit allerlei Kräutern, sorgt für einen ersten Anflug von Sättigungsgefühl. Und dann wäre da noch der Lauch. Eine schwarz gekokelte Stange für jeden, und dabei mag ich doch beides gar nicht, weder Lauch noch Verbranntes. Das Gemüse lässt sich aufklappen wie ein Brillenetui, darin verbirgt sich eine hocharomatische Creme vom – ja, vom Lauch. Zauberei! Hier lernt man Produkte lieben, die einem vorher noch abscheulich erschienen. >>

Gang Nr. 11: „Leek and cod roe“

Allerdings lernt man auch Dinge zu verabscheuen, gegen die der eingekochte Zwiebelsud mit Birne und Ameisen wie ein südfranzösisches Festessen erscheint: ich weiß jetzt, dass ich keine Fischleber mag. Schon gar nicht so kalt und glitschig und irgendwie noch lebendig, wie sie im „Noma“ aufgetischt wird.  An dieser Stelle kommen mir erste Zweifel: darf es in einem zwanziggängigen Menü zum Preis von 201€ überhaupt auch nur eine einzige Speise geben, die einem nicht schmeckt?

Überhaupt beginnt mir der ganze Naturwahn hier allmählich auf den Geist zu gehen. Ich fühle mich wie im Sachkunde-Unterricht eines Waldorfkindergartens, mit den Filzkissen, in denen warmes Roggenbrot schlummert, mit den ofengebrannten, schlammbraunen Tonplatten und -schüsseln und mit der mittlerweile irgendwie albern anmutenden Strenge, die jede Art von nicht-dänischen Produkten auf dem Teller verbietet. Nicht, dass mir das Schälchen mit Waldbeeren und gedünstetem Fenchel nicht schmecken würde. Aber auf Dauer fühlt man sich hier nicht mehr wie in einem Restaurant, in dem gegessen, sondern wie in einem Labor, in dem geschmeckt wird. Wir sind bei Gang Nr. 16 angekommen, und ich bin immer noch nicht satt, verspüre aber einen deutlichen Bewegungsdrang, seit 12 Uhr sitzen wir, jetzt ist es halb 4. Einige der anderen Gäste erlauben sich den fauxpas einer Raucherpause. Ob sie das nussig-süßliche Aroma des gegrillten Blumenkohls danach ebenso schmecken wie ich? In der Tat habe ich selten solch ein würziges Stück Blumenkohl verkostet, hier garniert mit Meerrettich und Kiefernnadeln. Fleisch wurde bisher nicht serviert, stattdessen gibt es als nächstes einen hervorragenden Steinbutt, den wir vorher im Ganzen bewundern dürfen. Der verantwortliche Koch schleppt den gewaltigen Fisch wie eine Trophäe um den Tisch herum. Wahrscheinlich frisch geangelt, vor 15 Minuten oder so. Aber ich will ja nicht lästern. Der gebratene Steinbutt ist ein Gedicht, außen knusprig, innen zart wie geschmolzene Butter.

Ich kann nicht mehr. Ich will aufstehen und die Treppe rauf- und runterrennen, ein paar Kniebeugen machen und zum Kanal joggen. Dabei haben wir keine nennenswerten Mengen verschlungen. Alle bisher gegessenen Speisen ließen sich mit Sicherheit auf einem einzigen Teller verstauen. Aber mal eben einen halben Wald verkosten, das ist irgendwie erschöpfend. Ich fühle mich vollgestopft mit reinster Natur, Tannennadeln, Lauch, Beeren, Wachtelei, biodynamischen Kräutern, Brunnenkresse, Bucheckern. Das Ganze wirkt in dieser puren Unverfälschtheit natürlich ziemlich schick, so aufrichtig, ethisch korrekt, bio. Auf Dauer steigert sich die Zelebration des Natürlichen aber zum Gegenteil: nämlich zur aufgesetzten Künstlichkeit. Muss ich denn wirklich einen Kekssandwich mit süßsaurer Ameisenmarmelade zum Dessert essen? Als Schmankerl obendrauf doziert der Kellner für uns über die Ameisenjagd: weil die Krabbeltiere ein ungenießbares Gift absondern, sobald sie sich bedroht fühlen, werden sie bei Nacht eingefangen (warum noch mal bei Nacht, das habe ich vergessen, vielleicht sind Insekten bei Vollmond gefügiger) und ihnen per Pipette jene Giftstoffe eigenhändig entzogen. „Ameisen“, sagt der Kellner und lächelt wieder so gewinnend ,“sind das Steak der Zukunft. Sie produzieren kein CO₂ und sind außerdem reich an Proteinen.“ Ah ja, und wer soll sich um das eigenhändige Giftaussaugen kümmern? Und wie viele Ameisen müsste man – nachts natürlich! -fangen, um eine vierköpfige deutsche Durchschnittsfamilie zu sättigen? Ich würde eher sagen: Ameisen sind der Kaviar der Zukunft.

Gang Nr. 19: „Blueberry and ants“

Irgendwann darf ich endlich aufstehen, ich fühle mich schon wie ein achtjähriges Kind, dass einfach nicht stillsitzen kann. Wir machen einen Ausflug in die Küche, allein vier Köche kümmern sich um die frischgepflückten Himbeeren, ein anderer grillt die Lauchstangen, der nächste hebt vorsichtig gepufftes Moos aus einem Kunststoffbottich, und die drei dahinten scheinen mir nach Ameisenjägern auszusehen. Alle sind nett und freundlich und freuen sich, uns zu sehen. Zugleich herrscht die geschäftig-konzentrierte Atmosphäre eines Boxenstopps. Im „Labor“ nebenan geht es entspannter zu. Aus den Lautsprechern rocken The Kooks, in hohen Holzregalen stehen feinsäuberlich aufgereiht Weckgläser und Tupperware-Boxen mit allerlei merkwürdigen Beschriftungen. Auf der Holzarbeitsplatte zwei Laptops, drei Köche stehen mit Notizblock davor, offenbar wird gerade ein neues Rezept ausgetüftelt. An einer langen Reihe von Garderobenhaken hängen Regenmäntel in ordentlicher Reihung, darunter stehen Turnschuhe und Gummistiefel. Da ist sie wieder, die Waldorfkindergarten-Assoziation.

Ich weiß, dass es eigentlich gemein ist, so über ein Restaurant zu reden, in dem mit höchster Präzision die optimale Verarbeitung schlichter Heimprodukte erforscht wird. Und eben darum ist das „Noma“ auch zum besten Restaurant der Welt gewählt worden: weil hier aus vermeintlich rustikalem Blumenkohl eine exquisite Delikatesse wird, weil Ameisen wie Himbeermarmelade schmecken und hunderten verschiedener Wiesenkräuter jene Ehre erwiesen wird, die anderswo nur gebratener Entenstopfleber gebührt. Das „Noma“ achtet die Raffinesse der Natur und soll den hochdotierten Titel deshalb wohlverdient wissen.

Andererseits muss sich der Gast hier eher auf eine verspielte Erlebnisküche als auf klassischen Genuss einstellen. So einfach lässt sich die reine Natur nämlich nicht als Gourmet-Menü auftischen. Ein bisschen mehr Show drumherum muss schon sein. Muss es? Die nächtliche Ameisenjagd, die Jakobsmuscheln, die zu hauchdünnen Chips gedörrt werden, das Kartoffelpüree, das zum Pflaumenmus serviert wird, die Fischleber, kalt und glitschig und so toll naturbelassen? All die Abfälle, die bei der Verwandlung einer Kohlrabi in eine Kokosnuss entstehen? Schließlich heißt es doch: mit Essen spielt man nicht.

Gang Nr. 2: „Nordic coconut“

 

Gang Nr. 3: „Moss and cep“

 

Gang Nr. 4: „Flatbread and grilled roses“
Gang Nr. 6: „Cheese cookie and stems“

 

Gang Nr. 7: „Blackcurrant berry and roses“

 

Gang Nr. 8: „Pickled and smoked quails egg“
Gang Nr. 12: „Berries and grilled vegetables“

 

Gang Nr. 14: „Onion and fermented pears“

 

Gang Nr. 16: „Cauliflower and pine, cream and horseraddish“

 

Gang Nr. 18: „Roasted turbot and celeriac, bitter greens and nasturtium“

 

Gang Nr. 19: „Blueberry and ants“