Ständig treffe ich Leute, die mir erzählen, sie würden sich auf den Winter freuen. Wie herrlich es doch sei, jetzt endlich wieder „auf dem Sofa liegen zu dürfen, mit einer Tasse Tee, einer Wolldecke und einem guten Buch.“ Die Kombination Sofa-Tee-Wolldecke-Buch verbinde ich persönlich immer mit einer schweren Grippe oder Magendarm-Infektion, und auch sonst habe ich das Gefühl, dass diese Leute, die mir da was von winterlicher Gemütlichkeit vorschwärmen, sich die schrecklichste Saison des Jahres einfach nur schön reden wollen.
Vielleicht bin ich aber auch ein Extremfall. Ich hasse den Winter nicht nur, nein, ich fürchte mich vor ihm. Mit dem Herbst könnte ich mich, sofern er golden ausfiele, noch irgendwie anfreunden, wäre da nicht das Wissen, dass auf den Herbst unaufhaltsam der Winter folgt. Die nackte Tristesse ohne Blumen und Blätter, die schwarzen Daunenjacken, das Aufstehen im Dunkeln, das Abendessen im Dunkeln, die Mittagspause im Dämmerlicht und diese grauenhafte Kälte, von der ich Rückenschmerzen bekomme. Ich finde es auch nicht toll, drinnen im Warmem am Fenster zu sitzen und mir den Regen anzugucken. Ich mag keine dicken Jacken, keine Strumpfhosen, heißen Kakaotassen, Federbetten oder Ohrenwärmer. Stattdessen träume ich zwölf Monate im Jahr von orangefarbenen Sommerabenden, zirpenden Zikaden, Strandkleidern, eisgekühltem Campari Orange und diesem staubigen Geruch nach Hitze, der im Juli in der Großstadt hängt.
Eines Tages werde ich auswandern müssen, denn jedes Jahr wird es schlimmer, schon am 22. Juni wird mir bereits ganz mulmig, weil ab da die Tage wieder kürzer werden. Bis ich mir allerdings einen Zweitwohnsitz in Sydney oder Kapstadt oder San Diego leisten kann, braucht es wohl oder übel eine ausgefeilte Strategie, um den deutschen Winter zu überleben. Diese Strategie setzt sich aus zwei Komponenten zusammen. Schritt 1: Kleider einkaufen. Schritt 2: Kultur konsumieren. Weil wir uns auf mindestens sechs Monate Winter einstellen dürfen (von denen wir immerhin schon 11 Tage geschafft haben – yeah!), präsentiert Clairette heute Teil 1 mit den besten Empfehlungen für Oktober, November und Dezember – nach Weihnachten sehen wir dann weiter. Es sei denn, ich bin bis dahin schon in einer Regenpfütze oder Teetasse ertrunken.
Oktober
Zu Beginn der kalten Jahreszeit ist man, was den Kleiderschrank angeht, ja noch einigermaßen munter gestimmt: endlich kann man nach der Shorts-Saison mal wieder etwas Ordentliches anziehen. Über einem Minikleid von
Jacquemus wärmt die avantgardistische Jeansjacke mit Flauschbesatz von
Marques‘ Almeida, der Hut von
Jeonga Choi schützt vor Kräuselhaar, in den Stiefeletten von
Topshop Unique hüpft man beschwingt über Pfützen und Laubhaufen und die Handtasche von
Project Oona ist gerade so formatiert, das ein ganz kleiner Regenschirm hineinpasst. Und eine Eintrittskarte für den
„Tag mit Sibylle Berg“, der am Sonntag, den 13. Oktober, im
Haus der Berliner Festspiele begangen wird. Während der vierstündigen Veranstaltung stellt die Schweizer Schriftstellerin in bunter Mischung „Musik, Kunst, Inszenierungen und Menschen“ vor, die ihr Leben bereichern. Unter anderem mit dabei: Skandalautorin Helene Hegemann, Schauspielerin Katja Riemann, Komödiant Heinz Strunk, Blogger
Fabian Hart. Für die Begegnung mit Letzterem haben wir ja auch die roten Schuhe an.
Wer hingegen das Sofa-Tee-Wolldecken-Programm bevorzugt, für den empfiehlt sich das neue Buch von Louis Begley,
„Erinnerungen an eine Ehe“.
Das Gesellschaftsdrama spielt in New York und erzählt mit den markanten Charakteren Philip und Lucy vom Dunst verkorkster Partnerschaften und holzgetäfelter Raucherzimmer.
November
Wie überlebe ich den November? Mit einem Schweinchenanhänger am Hals und Schleifen an den Füßen, ganz einfach! Genau wie die schimmernden Pumps von
Lanvin kommt das putzige Püppchen im Paillettenkleid natürlich aus Paris, es ist eine Kreation des Labels
Servanne Gaxotte. Die aus dicht gefilzter Wolle gefertigte Bikerjacke von
Wood Wood könnte man bei warmen Temperaturen gar nicht anziehen, zum Glück ist es jetzt aber kalt genug, um endlich in das herrliche Stück hinein schlüpfen zu dürfen. Was
Kenzo kann, können die Libanesen von
Sarah’s Bag schon lange: nämlich Handtaschen mit Augenaufschlag entwerfen – hier sogar aus lauter Perlen gestickt. Und wenn der Novemberhimmel gelegentlich mal die gleiche Farbe wie das fließende Seidenkleid von
Topshop Unique trägt, dann mag selbst ich der trüben Jahreszeit ein klein wenig Charme zuschreiben.
Zudem sind wir in diesem Aufzug bestens gekleidet, um ins Ballett zu gehen: die Lackschuhe haben wir schließlich nicht zum Laubharken angezogen. Besser, man stöckelt darin am 13. November ins Schiller-Theater und schaut den SchülerInnen der Staatlichen Ballettschule beim Tanzen zu. Anders als in klassischen Inszenierungen wird hier eine Mischung aus konventionellen Schritten und modernen Choreographien gezeigt.
Zur aktuell interessantesten Ausstellung der hauptstädtischen Museen passt hingegen die glotzende Handtasche gut: im Kupferstichkabinett gibt es unter dem Titel „Frauen – Stiere – Alte Meister“ ausdrucksstarke Grafiken, Zeichnungen und Gemälde von Pablo Picasso zu bewundern.
Und bevor die Hektik der Weihnachtszeit beginnt, ist jetzt außerdem der optimale Zeitpunkt, mal wieder ein richtig fesselndes Buch zu verschlingen: „Das Recht auf Rückkehr“ von Leon de Winter vereint Kindesentführung, Terrorismus, Israel-Konflikt und Prolepse ins Jahr 2024 in einem einzigen Roman.
Dezember
Jetzt wird es ernst: der kürzeste Tag des Jahres naht. Die gute Nachricht: ab dem 22. Dezember beginnt für Winterhasser quasi wieder der Sommer, die Tage werden länger. Schön kleiden kann man sich die Dunkelheit aber auch einfach in einem feinen hellgrauen Mantel von
Carven. Der ist zudem praktisch, weil man sich darunter unbehelligt eine warme Speckschicht aus Vanillekipferl anfuttern kann, ohne dass es einer merkt. Dieser Trick dürfte auch unter der 7/8-Hose von
MSGM funktionieren. Vorweihnachtszeit ist Klassentreffenzeit, da darf man ruhig ein bisschen über die Stränge schlangen und in den schwarz-weißen Stiefeletten von
Kenzo beweisen, dass man sich auch modisch gesehen weiterentwickelt hat. Die Ohrringe von
Bernard Delletrez sind notwendig, weil rosafarben – eine bessere Farbtherapie kann man sich im Dezember nicht antun. Und der flauschige Pullover von
House of Holland führt uns mit brisantem Schriftzug gleich zum Kulturprogramm des Monats:
„Pas devant les enfants“ ist nämlich auch der neue Film von François Ozon „Jung und Schön“ zu genießen, der jetzt in den Kinos läuft. Die 17-jährige Isabelle ist allerdings nicht nur jung und schön, sondern führt nebenbei auch noch ein Doppelleben als leichtes Mädchen gut aussehender Herrenbekanntschaften. Betörung
à la française!
Mit ganz anderen, nämlich realen Problemen schlagen sich indes die jungen Frauen im israelischen Militärdienst herum.
„Das Volk der Ewigkeit kennt kein Mitleid“ heißt eine der spannendsten literarischen Neuerscheinungen der Saison – darin erzählt Shani Boianjiu vom Alltag dreier Soldatinnen im Zwiespalt zwischen Kriegstrauma und jugendlicher Lebenslust.
Wem das alles so kurz vor Weihnachten zu viel Sex und Drama ist, der kann alternativ ab dem 7. Dezember im
C/O Berlin die Ausstellung des Fotowettbewerbs
„My Secret Life“ bewundern. Aktuell läuft der Wettbewerb noch, herbstgelangweilte Fotografen und Künstler aus aller Welt können also bis zum 1. November ihre Fotoserien einsenden. Die möglichen Sujets sind vielfältig, von der „politischen Intrige“ bis zur „alltäglichen Heimlichtuerei“ darf alles thematisiert werden. Viel Glück!