Für einsame Erwachsene mit Smartphone gibt es im
Applestore seit Kurzem ein neues Spielzeug herunterzuladen:
tinder. „To burn like tinder“ bedeutet zu Deutsch
„Wie Zunder brennen“, und kontaktfreudige Herzen zum Lodern zu bringen, genau das maßt sich diese Telefon-Applikation an, ausgerechnet.
tinder ist ein bisschen wie Quartett. Man blättert durch einen Stapel registrierter Nutzer und betrachtet ziemlich überschaubar gestaltete Profile mit einer Auswahl von Facebook-Bildern, Informationen zu Alter, gemeinsamen Facebook-„Freunden“ und Facebook-„Interessen“(womit nichts anderes als die im sozialen Netzwerk
gelikten Fanseiten gemeint sind. Irgendwann habe ich mal für ein Gewinnspiel
Carlsberg gelikt, es gab einen Kühlschrank zu gewinnen.
tinder denkt pragmatisch und zählt
Carlsberg nun zu meinen „Interessen“). Per Filter lassen sich gewünschtes Geschlecht, Alter und maximale Entfernung des gesuchten Zunders vom eigenen Standort einstellen.
tinder sucht dann per GPS alle in der Nähe befindlichen und den Kriterien entsprechenden Nutzer heraus. Per Tastenklick wird geherzt, wer ansprechend aussieht, alle anderen wandern in den virtuellen Abfalleimer. Hat ein gegenseitiges Herzen stattgefunden, ist das erste Level auf dem Weg zur Smartphone-Liebschaft geschafft:
„It’s a match!“ freut sich
tinder, jetzt gibt es zwei Optionen: „Start chatting“ oder „Keep playing“. Ich sag doch, es ist ein Spielzeug.
Allerdings eines mit großem Erfolg: Laut Unternehmen sollen seit dem US-Launch im September 2013 über 100 Millionen sogenannte „matches“ zustande gekommen sein, außerdem rund 50 Heiratsanträge. tinder nutzt den Umstand, dass viele Leute bei der virtuellen Kontaktaufnahme viel hemmungsloser sind als im echten Leben. Online einen Korb zu kriegen ist schließlich weniger schmerzhaft als offline. Und gerade in Großstädten ist die App beliebt – dort, wo die meisten Smartphone-Besitzer herumlaufen. Dort, wo reales Flirten anscheinend immer schwieriger wird. Und auch dort, wo die Menschen besonders wählerisch sind? tinder ist rational und brutal zugleich: da ich den angezeigten Nutzer ausschließlich über Bilder, Freundschafts- und Interessenüberschneidung bewerten kann, wird weggeklickt, wer „in echt“ vielleicht richtig interessant wäre. Und andersherum geherzt, wer zwar gut aussieht, in Wirklichkeit jedoch eine Schnarchnase ist, die den Mund nicht aufkriegt.
Da hätten wir zum Beispiel M., mit dem mich das Interesse am Magazin Dazed and Confused verbindet, gemeinsame Freunde haben wir keine, auf seinen Bildern ist nicht viel zu erkennen, auf einem versteckt er sein Gesicht hinter einem Platten-Cover von Cam’ron. Ich habe eine Altersspanne von 20 bis 30 eingestellt, M. ist 29. „meine ausdauer ist stark, mein anliegen sprunghaft“ beschreibt er sich selbst. Toll, das reicht mir schon. Der nächste, bitte. Wen haben wir da? V., 27, aktuell drei Meilen von mir entfernt, zuletzt vor fünf Stunden auf tinder online, Undercut-Haarschnitt, schwarze Brille, auf einem Bild sieht man ihn irgendwas mit Oktopus essen. Nächster. Hui. B., 27, eine Meile entfernt. Keine gemeinsamen Freunde oder Interessen, dafür gut gekleidet, afroamerikanischer Einschlag, ziemlich hübsch. Herz! „It’s a match!“ blinkt tinder, toll, B. hat mich auch geherzt. Ein paar Stunden später gehe ich wieder online, jetzt hat er schon geschrieben. So einfach kann Kontaktaufnahme sein. Was Samstagabends in der Bar größte Überwindung kostet, funktioniert auf tinder ohne Umschweife. Und ohne Angst vor Peinlichkeiten: wen ich herze, ohne zurückgeherzt zu werden, der bekommt von meiner Schwärmerei gar nichts mit. Verbunden werden nur gegenseitig einander Zugeneigte.
What do you think about tinder? frage ich ein paar Tage später A., B. ist schon wieder passé, auf tinder gibt es ja noch so viel anderes zu entdecken. Ursprünglich hatte ich mir die App aus Recherchegründen und mit dem Vorsatz, sie nach fünf Minuten Entdeckungstour sofort wieder von meinem Telefon zu löschen, heruntergeladen. Mittlerweile bin ich, offen gestanden, ein ganz kleines bisschen süchtig. Es macht Spaß, in einer freien Minute durch den Stapel Zündmaterial zu blättern, Bilder von Wildfremden zu sichten, voyeuristisch zu sein, ohne dass es einer merkt, spaßenshalber abzuwägen, wer cool oder lahm sein, mit wem sich eine Kontaktaufnahme lohnen könnte. Anders als die meisten herkömmlichen Partnervermittlungen gibt ein tinder-Profil kaum Informationen über den Nutzer preis, weshalb die virtuelle Begutachtung und Kontaktaufnahme der realen Kommunikationssituation in einer Bar oder einem Club doch erstaunlich nahe kommt. So oberflächlich die App erscheinen mag: wer abends beim Ausgehen auf Partnersuche ist, hält auch nicht mit sehr viel tiefgründigeren Kriterien im Kopf nach potenziellen Kandidaten Ausschau. Die äußere Erscheinung ist, ganz ehrlich, fast immer die erste Bedingung, der erste Filter für eine mögliche Annäherung.
Was sagt A. nun zu tinder?
I find it smart. A nice concept because you pick who you want.
Das klingt allerdings schlau, wenn auch ziemlich technisch. Und daher furchtbar unromantisch. Hat uns das reale Leben nicht gelehrt, dass die Liebe dorthin fällt, wo wir sie am wenigsten zu finden glauben?
Mit tinder öffnet sich auf der mobilen Zeittotschlagmaschine nun zudem ein weiteres Fenster, das Kommunikation simuliert, aber eigentlich in aller Einsamkeit genutzt wird – ebenso wie Emailprogramme, Facebook, Instagram und Twitter. Und sind wir mit diesen Social-Media-Kanälen in puncto Kontaktpflege nicht sowieso schon ausreichend beschäftigt? Ich jedenfalls schon.
Wie traurig ist unsere Welt geworden, dass wir so etwas wie tinder überhaupt nötig haben? Virtuelle Partnervermittlung fand ich selbst bisher immer albern, schrecklich nüchtern und unpoetisch. Nicht einmal die Liebe überlassen wir heute noch dem Zufall, stattdessen gehen wir ganz gezielt per digitalem Fingerwisch auf die Jagd. Viele meiner Freundinnen nutzen tinder allerdings auch aus purer Langeweile und Freude an der kurzweiligen Aufmerksamkeit. „Ich schreibe da gerade mit 11 verschiedenen Typen“, verrät mir G., die eigentlich in einer festen Fernbeziehung ist. Ob ihre Gesprächspartner tinder ähnlich absichtslos konsultieren? Oder mit der Hoffnung auf die große Liebe, die im realen Großstadtleben so schwer zu finden ist? Ist tinder einfach nur eine weitere perverse Oberflächlichkeit im egozentrischen Social-Media-Dschungel? Eine unromantische Abkürzung zu schnellem Spaß? Oder die geniale Vereinfachung eines der vielleicht kompliziertesten Rätsel menschlicher Kommunikation – nämlich der ersten Kontaktaufnahme auf der Suche nach dem Richtigen?