Backfisch für alle?

GROSSE FRAGEN BEI DER ZEITMAGAZIN MODE-KONFERENZ 


„Ich fühle mich wie 80“, erzählt Tillmann Prüfer, Style Director des ZEIT Magazins.“Ich habe jetzt zum ersten Mal eine Praktikantin, die mich siezt. Morgens fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit, nicht der Fitness wegen, sondern weil ich Angst davor habe, in der U-Bahn einen Sitzplatz angeboten zu bekommen.“ Herr Prüfer steckt in der Midlife-Crisis, demnächst wird er 40. Der Titel der diesjährigen Mode-Konferenz des ZEIT Magazins, zu der sich am Montagmittag Gäste und Redner aus Mode, Kultur und Medien versammelt haben, hat also persönliche Hintergründe: er lautet „Jugendstil“.

Tillmann Prüfer hat sich in aller Melancholie Gedanken dazu gemacht, und als Einstieg wagt er erst einmal den Rückblick in die eigene modische Vergangenheit. „Hier sehen wir eine Jeansjacke mit Atompilz“, erläutert er das Foto eines wüst mit allerlei politischen Botschaften der 80er Jahre bepinselten Denim-Stücks, die passende Hose gibt es auch. Bei den Mädchen sei dieser Look leider nicht gut angekommen, erzählt Prüfer, aber wenigstens habe er sich damit einer verwegenen, jungen Bewegung zugehörig fühlen können. Nicht nur der amateurhaften Bemalung wegen würde man die Jeansjacke heute allerdings als unansehnlich bezeichnen. Es ist auch der Verweis auf diese oder jene jugendliche Subkultur, der heute gänzlich aus der Mode gekommen ist. Tillmann Prüfer hat sein Urteil gefällt: Die Mode der Jugend ist ausgestorben. Und sie wird niemals wieder zurückkommen.

Hat er recht?

In den 60er Jahren, sagt Prüfer, wurde Kleidung für Frauen gemacht und Kleidung für Mädchen. Es gab eine klare Trennung zwischen dem, was als frisch und jung und was als erwachsen und reif galt. Heute ist das anders: der Jugendwahn hat auch und vor allem in der Modewelt seine Spuren hinterlassen. „Backfisch für alle“ lautet das Motto dort. Die Models auf den Laufstegen werden, egal ob 15 oder 25, „Mädchen“genannt, und in Berlin stirbt man in seinen Sneakers. Jugendmode kann es deshalb nicht mehr geben, weil es gar keine erwachsene Autorität mehr gibt, gegen die die Jugend damit opponieren könnte. Wenn alle jung sein wollen, verliert Jugendlichkeit an Wert.

Zugleich unterliegt man als junger Mensch heute keinem Trenddiktat mehr. Vor 50 Jahren hatte die Mode sehr starke Codes, an denen erkennbar war, welcher Subkultur man gerade angehörte. Heute will man nicht mehr aussehen wie jemand anderes, sondern kein anderer soll aussehen wie man selbst – wir stecken im Zeitalter der Individualisierung, unterstützt durch die vielen Selbstdarstellungsplattformen des Internets. Auch weil man sich dort einem mitunter viel differenzierteren Publikum stellen kann als in der realen Welt auf dem Schulhof, ist in der Mode heute so gut wie alles akzeptiert: Großmutters Unterhose als Hotpants, ein 100 Jahre alter Bison-Mantel, Neon mit Rot, Neon mit Neon. Die Mode ist ein großes, sehr freies Allerlei geworden, aus dem ich mir aussuchen kann, was zu mir persönlich passt. Den einen Stil der Jugend aber gibt es nicht mehr – sagt Tillmann Prüfer.

Aber von welcher Jugend reden wir hier überhaupt? Vielleicht muss man selbst noch sehr jung sein – so wie ich, ich bin ja noch nicht mal 20 – um an dieser Stelle bemerken zu dürfen, dass es unter Jugendlichen heute durchaus noch immer eine kollektive Bewegung gibt, die wahrscheinlich stärker ist als alle Subkulturen der 60er zusammengerechnet: der Mainstream. Wenn ich an meine eigene Schulzeit zurückdenke, dann erinnere ich mich vor allem an langhaarige Mädchen in dunkelblauen Daunen-Parkas und Ugg-Boots und Jungs in Jeans und T-Shirt. Bis auf ein paar Außenseiter sahen sich die meisten von ihnen ziemlich ähnlich. In ihrer Freizeit spielten sie Tennis oder Hockey und am Wochenende gingen sie alle in den gleichen Club auf der Großen Freiheit in Hamburg, ins Funky Pussy.

Das war nicht der Stil der Jugend, das war einfach nur langweilig, und ich glaube kaum, dass es bloß an meiner Schule so zuging, schließlich muss man heute nur durch eine deutsche Fußgängerzone laufen um festzustellen, das Jugendmode im 21. Jahrhundert keineswegs individuell, sondern in vielen Fällen einfach nach Primark und Zara aussieht. Und auch die Jugendlichen, die im neuen ZEIT Magazin, das am 16. Januar erscheint, in der Modestrecke „Jugendstil“ zu sehen sind, haben sich nicht selbst so toll angezogen, sondern wurden tatsächlich professionell gestylt. Klingt fies, ist aber so: während die meisten modebewussten Erwachsenen angeblich wie Jugendliche aussehen wollen, haben die meisten Jugendlichen selbst überhaupt keine Ahnung von Mode. Und bis sich das ändert, halten sie sich lieber an den Mainstream, um ja nichts falsch zu machen.

Doch auch wenn ich als Zehntklässlerin vielleicht anders als die meisten meiner Mitschüler gekleidet herumlief, heißt das nicht, dass ich damit irgendwie besser aussah. Viel schlimmer: dank der pubertären Umbauarbeiten wusste ich bis vor ein wenigen Jahren gar nicht, wer ich überhaupt war und sein wollte. Die Durchgeknallte in grünen Leggins? Die Romantische im blumigen Maxikleid? Die Elegante im Tellerrock? Die Coole im Rocker-T-Shirt? Modische Freiheit konnte ich dabei nicht wirklich genießen, eher modische Verunsicherung. Weil schon die Jugendlichen der 60er und 70er dieses Problem der Selbstfindung kannten, schlossen sie sich damals eben gern besagten Subkulturen an, dank derer sie sich immerhin von der spießigen Elterngeneration abgrenzen konnten.

Der vermeintliche Jugendwahn der heutigen Modewelt hat hingegen dafür gesorgt, dass so manche modische 40-Jährige in vielen Fällen zehnmal cooler aussieht als ihre 13-Jährige Nichte in Skinny-Jeans. Und an dieser Stelle kann man sich dann fragen, ob die Mode heute tatsächlich von der Jugend geprägt ist oder nicht doch von etwas ganz anderem: von fremden Kulturen, vom Sport, von den Goldenen Zwanzigern, von abstrakter Kunst, Motorradfahrern oder Dressurreitern.

„Jugend ist keine Kategorie der Mode“, sagt schließlich auch Dr. Barbara Vinken, Autorin des Buchs Angezogen, die ebenfalls als Rednerin bei der Konferenz zu Gast ist. Wahrscheinlich ist heute, wo stilistisch gesehen doch alles erlaubt ist, am Ende gar nichts mehr eine Kategorie der Mode. Die Grenzen verlaufen hier schließlich nicht mehr vertikal zwischen jugendlich und erwachsen oder jung und alt, sondern horizontal zwischen Schottenkaro und Polkadots, Minirock und Midikleid, Sneakers und Stilettos, Kroko und Snakeskin, Federn und Fransen, streng und lässig, maskulin und feminin, sportlich und sexy, Calvin Klein und Cavalli. Alles ist erlaubt, zieh‘ an, worauf du Lust hast. Aber Backfisch für alle? Wäre das nicht viel zu einseitig für die Mode von heute?

Das neue ZEIT Magazin zum Thema Jugendstil 2014 liegt am 16.1. der ZEIT bei. 
Alle Fotos: Heji Shin. Styling: Markus Ebner. Fotografiert wurden Jugendliche aus Berlin.