Wir befinden uns in der Rue Debelleyme, Marais, Paris, genauer im zurzeit wahrscheinlich beliebtesten Café der Stadt: der Rose Bakery. Moment – Paris? War die nicht in New York? Oder London? Auch egal: bei meinem letzten Besuch in der französischen Hauptstadt schien alle Welt verrückt nach einem Frühstück in der Dependance des Londoner It-Cafés. Am ersten Morgen dürstete es mich nach einem klassischen Café au Lait zum klassischen Croissant in klassisch-französischer Kaffeehaus-Atmosphäre. Stattdessen schleppte mich meine Tischgenossin in die Rose Bakery, wo bereits das Catering für die Schauen von Stella McCartney und Christian Dior vorbereitet und an den Nebentischen vornehmlich Deutsch und Englisch gesprochen wurde. Bis mir meine Vogelportion Granola-Müsli endlich serviert wurde, hatte ich, unter Neonröhren und umgeben von nackten Steinwänden sitzend, längst vergessen, dass ich mich tatsächlich gerade in Paris und nicht in SoHo oder Shoreditch aufhielt. „We wanted to create a place where people felt at home“, kommentiert Rose Carrarini, Gründerin der Rose Bakery, das Konzept ihres Unternehmens, das mittlerweile mit mehreren Filialen von New York bis Tokio vertreten ist.
Tatsächlich scheint die Rose Bakery so etwas wie die neue homebase des jungen und hippen Touristenvolks geworden zu sein. Kein Wunder: neben den angebotenen Kuchen und Tartes – die zugegebenermaßen ziemlich gut schmecken – entspricht auch das Ambiente, egal ob in Frankreich oder Japan, ganz dem aktuellen Zeitgeschmack internationaler Café-Kultur. Die lässt sich allerdings auch anhand unzähliger weiterer Beispiele definieren. Weltweit sprießen derzeit Coffeeshops aus dem Boden, deren Besitzer offenbar allesamt das gleiche Handbuch unter dem Titel „Wie man einen Szene-Hotspot etabliert“ gelesen zu haben scheinen. Ausgewählte Lektionen dieses Ratgebers:
– Du mietest eine möglichst heruntergekommene Location in möglichst schickem Szenebezirk. Die Wände lässt du entweder lässig unverputzt oder streichst sie in cleanem Weiß oder Schwarz.
– Statt lauter kleiner Tische kaufst du zwei lange Holztafeln, an denen deine Gäste wie die Hühner auf der Stange hocken und gegenseitig die Start-Up-Konferenzen ihrer Sitznachbarn belauschen können. Für den charmanten raw effect hängst du obendrüber noch ein paar lose Glühbirnen und/oder industriell angehauchte Lampenschirme.
– Essentielles must-have ist eine schwarze Tafelwand, auf der du mit weißer Kreide umweltfreundliche Kaffeesorten, Smoothies, Dinkel-Panini mit Hummus-Aufstrich, irgendwas mit Crumble und glutenfreie Brownies auflistet; all das natürlich vegan. Schlüsselwörter wie „fresh“, „organic“ und „free WIFI“ nicht vergessen.
– Den Cappuccino servierst Du mit herzförmigem Milchschaum.
2007 entdeckte ich während meiner ersten Paris-Reise das damals noch unbekannte Deli Le Pain Quotidien, bewunderte dort den ungewöhnlichen Charme der langen Holztische und in Metallregalen gestapelten Brotleibe. Ein Jahr später lief ich in SoHo, New York, wieder an einem Pain Quotidien vorbei – bis dato hatte ich das Café für ein Pariser Unikat gehalten. Ab da gab es kein Halten mehr: Le Pain Quotidien ist mittlerweile zu einer Art Edel-Starbucks mutiert und in jeder zweiten Metropole zu finden. Nur nicht in Berlin – hier ist die Konkurrenz dank Abermillionen anderer Cafés und Restaurants wie The Barn oder St. Oberholz, die nach dem exakt gleichen Industrie-Chic-cum-Herzcappuccino-Konzept funktionieren, offenbar zu groß. Restaurationen dieser Art findet man mittlerweile in Barcelona wie in Beirut, in Kopenhagen wie in Kapstadt, in Mexico City wie Mallorca.
Was man beim Besuch solcher Hotspots allerdings vermisst, ist die ortstypische Individualität. Früher war der Besuch eines Lokals in einer fremden Stadt ein Kulturereignis, bei dem man die Einheimischen in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten sowie deren Spezialitäten und Esstraditionen kennen lernen konnte. Heute vergisst man ob der Austauschbarkeit vieler Lokationen mit den immergleichen Angeboten in immergleicher Innenarchitektur unter immergleich beschrifteten schwarzen Holztafeln, in welchem Land man eigentlich gerade Urlaub macht.
Und das Traurigste ist: die angeblich vor lauter Geheimtipps nur so strotzenden Reiseartikel der Hochglanzmagazine empfehlen auch nichts anderes mehr als die allüberall erwähnten Hipsterstuben. Auch wenn die Qualität dort gut sein mag: wo bleibt das Abenteuer, die Exotik? Ich habe keine Lust darauf, in Istanbul in einem Café zu sitzen, das sich ebenso gut in München-Schwabing befinden könnte. Ich will in Paris Croissant und kein Granola essen, in Lissabon meinen Galão an einem ranzigen Bartresen neben schnatternden Portugiesen sitzend trinken, in Budapest Sachertorte unter Kronleuchtern anstatt Cupcakes unter Glühbirnen verspeisen. Das sind die kulinarischen Kultur-Ereignisse, nach denen ich auf Reisen suche.
Anlässlich des Auftakts der Urlaubssaison starten wir deshalb heute die Aktion gegen Coffeeshop-Konformismus. Anti austauschbarer Szene-Hotspot, pro ehrliche Einheimischen-Kneipe. „Die Törichten besuchen in fremden Ländern die Museen, Weise gehen in die Tavernen“ hat Erich Kästner einmal gesagt. Heißt, im Restaurant erlebt der Reisende den wahren Lifestyle der Einheimischen – allerdings nur, so lange er sich ernsthaft auf die Suche nach den altehrwürdigen Institutionen begibt. Sonst könnte er ja, gemein gesagt, auch gleich zu McDonald’s gehen. Wir sehen: es ist Zeit für Clairette’s ultimativen Tavernenguide 2014. Und hier ist er schon. Gute Reise! Bon appétit!
1. Berlin: Ankerklause
Als ausgewanderte Hamburgerin kann man im kontinentalen Berlin doch gelegentlich mal Sehnsucht nach Seeluft bekommen. Dann geht man am besten in die Ankerklause am Landwehrkanal. Drinnen sieht es aus wie bei Käpt’n Blaubär: die Wände sind blau gestrichen und tragen Fisch-Muster, abends leuchten die Lichterketten, durch Bullaugen schaut man ins Aquarium, dazu isst man Fish & Chips, Strammen Max oder Apfelkuchen. Und es gibt sogar Alsterwasser! – Kottbusser Damm 104, 10967 Berlin
2. Kopenhagen: Sankt Annæ
Im urigen Sankt Annae bekommt man das wahrscheinlich beste Smørrebrød von ganz Kopenhagen: Schwarzbrot mit Lachs, mit Hering, Rinderbraten, Krabbensalat oder Leberpastete. Tapfere schaffen drei Portionen. Serviert werden die Speisen auf riesigen Silberplatten, man sitzt auf feinen Polsterstühlen in Biedermeier-Ambiente, um die Ecke wohnt die Königin. Wer will da noch nach Vesterbrø? – Sankt Annæ Plads 12, 1250 København
3. Hamburg: L’Europeo
Merke: die wahren Legenden unter den Tavernen haben keine Website. Und befinden sich an unmöglichen Standorten. Und sind trotzdem immer ausgebucht. Zu L’Europeo, der Hamburger Institution in reichlich unszeniger Lage unweit der A7, geht man am besten mit viel Bargeld und gutem Hunger. Es gibt keine Speisekarte, dafür muss man sich extra konzentrieren, wenn der Patron des Hauses, Toni, die Spezialitäten des Tages herunterbetet. Zum Niederknien: gebratene Artischocken mit Jakobsmuscheln. – Osdorfer Weg 27, 22607 Hamburg.
4. Palma de Mallorca: La Bóveda
Auf Mallorca ein Fleckchen Erde zu finden, das man sich nicht mit mindestens 20 weiteren Deutschen teilen muss, ist nicht ganz einfach. Auch in der Tapasbar La Bóveda muss man mittlerweile davon ausgehen, am Nebentisch einen Mitreisenden aus der Air-Berlin-Maschine wieder zu treffen. Dafür ist die Atmosphäre hier umso authentischer: am Fenster hängen duftende Schinkenkeulen, auf dem Tresen stehen riesige Tonschüsseln voller Oliven, auf den Tisch kommen köstliche Pimientos mit Meersalz, Tomatenbrot mit feinstem Olivenöl, gebratene Sardinen, Manchego und die knusprigsten Fischkroketten von ganz Mallorca. – Carrer de la Boteria, 3, 07012 Palma
5. Paris: Café Charlot
Gerade zur Modewoche sitzt man auch im Café Charlot nicht nur unter Franzosen. Dafür gibt es hier aber alles, was man von einem waschechten Pariser Kaffeehaus so erwartet: Kachelwand, rote Korbstühle, Glasleuchter, herrlich schnippische Kellner. Zum Frühstück unbedingt die formule „Coup de cœur“ bestellen: Café, Orangensaft, Croissant, Toast, Graubrot-Stäbchen und Frühstücksei für sagenhafte 11,50€! – 38 Rue de Bretagne, 75003 Paris
6. Beirut: Habana
Das Restaurant Habana MUSS ich einfach empfehlen (trotz Reisewarnung für den Libanon – pff!). Allein schon für die Familienehre: der Laden gehört meinem Onkel. Und einer der Drinks, der „K&K-Cocktail“, ist nach meiner Cousine benannt. Streng genommen liegt das Habana gar nicht in Beirut, sondern in Jounieh, einem hübschen Badeort vor den Toren der Stadt. In einem französischen Haus aus der Kolonialzeit werden hier seit 20 Jahren mexikanische Spezialitäten serviert. Und freitags gibt’s immer Livemusik! – Habana Bldg., Sarba Street, Jounieh
7. Istanbul: Bilici Karafirini
Weil in Istanbul Orient und Okzident zusammen kommen, kann man hier durchaus auch in ziemlich noblen Cafés und Restaurants einkehren. Ich allerdings kann nach meinem letzten Istanbul-Besuch im Mai ausschließlich die zwielichtigen Spelunken empfehlen. Zum Beispiel Bilici Karafirini: dort sitzt man auf primitiven Holzhockern, trinkt sein Efes-Bier heimlich unterm Tisch (die Lokanta hat keine Alkohollizenz) und genießt knuspriges Lammfleisch vom Spieß, frischen Salat mit Sumac und Minze, Fladenbrot und viel viel Knoblauch. – Ecke Sofyali Sokak/Asmali Mescit, Stadtteil Tünel