Wenn man das Geld zum Fenster rausschmeißt

...KOMMT ES ZUR TÜR WIEDER HEREIN. WIRKLICH? 


Bis jetzt habe ich immer gedacht, die TV-Serie Sex and the City spiele sich in einer freierfundenen Märchenwelt ab. Vier Frauen, die in einer der teuersten Städte der Welt leben, in riesigen Wohnungen auf der Upper East Side hausen, jeden Morgen brunchen gehen, tagsüber unkontrolliert Schuhe kaufen und abends ein paar Cocktails in den aufregendsten Schuppen Manhattans kippen, wobei die bestgekleidete Hauptdarstellerin Carrie diesen schillernden Lifestyle einzig und allein mit dem Schreiben einer wöchentlichen Zeitungskolumne finanziert – das alles sieht zwar unglaublich schick aus, scheint aber doch gerade mal so glaubwürdig wie die Geschichte vom Rotkäppchen zu sein. Wie soll man denn bitte alle drei Tage ein neues Paar High Heels von Manolo Blahnik kaufen, jeden Abend im Restaurant essen und nebenher auch noch seine Miete zahlen, ohne nach spätestens zwei Wochen bankrott zu sein?

Natürlich ist und bleibt Sex and the City eine fiktive Fernsehsendung, bei der der Entertainmentfaktor des glamourösen Lebenstils von vier New Yorker Superfrauen und ihren Date-Malheurs im Fokus steht – und nicht die Frage, wie gut sich Carrie Bradshaw mit ihrem Steuerberater versteht. Trotzdem darf man der Serie keinesfalls Realitätsferne unterstellen. Im Gegenteil: wie ich mittlerweile festgestellt haben, gehört das Cosmopolitan-getränkte high life in New York tatsächlich von Uptown bis Williamsburg zum guten Ton. Selbst wenn man es sich gar nicht leisten kann. Selten habe ich mich in einer Stadt aufgehalten, in der das Geldausgeben so viel Spaß macht, und doch frage ich mich ausgerechnet hier nach nur sieben Tagen heiteren Konsumierens, ob wir nicht alle tatsächlich viel zu viel einkaufen. Und zwar nicht nur im Big Apple, der einem an jeder Straßenecke die Dollarnoten aus der Tasche zieht, sondern ganz allgemein. Online, im Supermarkt, bei Barneys, im Kiosk.

Ich will gar nicht wissen, wie viel Geld ich in meiner ersten Woche in New York schon ausgegeben habe. Und selbst wenn ich es wissen wollte, dann wüsste ich es nicht: längst habe ich mich nämlich an die amerikanische Art des Geldausgebens gewöhnt, die einzig und allein auf dem Besitz einer Kreditkarte beruht. Damit kann man hier ALLES bezahlen, und zwar ohne, dass man es merkt, denn die Kredikartenabrechnung kommt ja nur alle 30 Tage, bei amerikanischen Banken sogar nur alle drei Monate. Neulich habe ich tatsächlich eine Schachtel Kaugummi mit MasterCard bezahlt.

Aber wenn es doch nur Kaugummi wäre! Überall darf man hier Geld für lauter tolle Sachen zum Fenster rausschmeißen. Die Supermärkte sind so teuer, dass es kaum einen Unterschied zu machen scheint, ob man zuhause kocht oder im Restaurant speist – bloß, dass letzteres viel mehr Spaß macht.

Das Schlimmste aber sind die Boutiquen. In New York hat jede einzelne meiner Lieblingsmarken ein eigenes Geschäft. Proenza Schouler. 3.1. Phillip Lim. Tibi. Rag & Bone. Opening Ceremony. Hilfe, ich darf gar nicht an Opening Ceremony denken. Dort war ich vor zwei Tagen und wollte auf der Stelle mindestens zehn Sachen kaufen. Zum Beispiel diesen herrlichen Tellerrock, der blöderweise $395 kostet, aber bitte, ich bin nicht nach New York gekommen, um die Münzen in meinem Portemonnaie zu zählen. Das ist der Grund, mit dem hier alle ihren Konsum auf Kredit zu rechtfertigen scheinen: New York ist einfach zu herrlich, um zuhause zu bleiben und sich auf der Couch einen Schal zu stricken.

Diese Stadt muss doch vergleichsweise preiswert für Dich sein“, sage ich zu meiner neuen Freundin S., die aus London hergezogen ist. „Überhaupt nicht!“, protestiert S., „ich gebe hier viel mehr Geld aus als zuhause!“ Gerne auszugehen, jeden Samstag und Sonntag im Café im West Village zu brunchen und nach 22 Uhr lieber Taxi als Subway zu fahren sind allerdings alles noch Posten, die sich irgendwie als sinnvolle Ausgaben zur Steigerung des Wohlbefindens und zu Sozialisationszwecken rechtfertigen lassen. Aber wie steht es mit dem Einkaufen? Ich brauche keinen neuen Tellerrock von Opening Ceremony. Ich brauche keine gemusterte Felljacke von 3.1. Phillip Lim. Ich brauche keine Lederweste von Proenza Schouler, kein drapiertes Oberteil von Rosie Assoulin, keine gefütterten Leder-Mules von Tibi und keinen Cashmere-Rolli von Rag & Bone. Ich habe einen Kleiderschrank, der aus allen Nähten platzt vor lauter wunderschöner Klamotten, die ich alle in dem Glauben gekauft habe, absolut nichts zum Anziehen zu haben und mein zukünftiges Leben in Depression und Tristesse verbringen zu müssen, wenn ich nicht auf der Stelle genau dieses Paar exklusiver High Heels oder jenes ausgefallen geschnittene Seidenkleid kaufte.

Mir fällt keine Luxusbranche ein, bei der das Verhältnis von Bedürfnis, Nachfrage und Angebot so ungleich verteilt wäre. Ein existenzielles Bedürfnis nach Mode besteht keineswegs. Wir alle haben zu viel zum Anziehen, es sei denn, die Socke hat ein Loch und muss ersetzt werden, weil man sonst mit entblößtem Zeh herumlaufen muss. Abgesehen davon bedarf ich de facto nichts zum Anziehen. Trotzdem ist das Angebot an immer neuer Mode immens, und entsprechend auch meine Nachfrage nach immer neuen Einkaufseroberungen.

Karl Lagerfeld hat einmal gesagt: Wenn man Geld zum Fenster rausschmeißt, kommt er zur Tür wieder herein. Im Klartext: in vermeintlich überflüssigen Luxus wie neue Kleider und Schuhe zu investieren zahlt sich insofern aus, als dass es zur Steigerung der Lebensqualität beiträgt. In der aktuellen Ausgabe der britischen Vogue elaboriert Fiona Golfar die Frage, wie bedenklich unkontrollierter Modekonsum tatsächlich ist. Ihr Fazit: wenn Einkaufen glücklich macht, dann kann die unstillbare Lust auf Neues doch eigentlich nicht so verkehrt sein kann. Einkaufen macht Spaß! Geld für tolle Kleider ausgeben ist herrlich! Man lebt nur einmal! Bitte sehr, meine Kreditkarte! Swipe! – da gehen die 395 Dollar, da kommt mein neuer Tellerrock. Aber kaum hängt der im Schrank, mache ich schon Jagd auf das nächste Objekt meiner Begierde, denn ein Rock allein reicht nicht, die blaue Lammfelljacke da wäre auch noch schön, ganz dringend brauche ich auch den gelben Mantel, und ein feines Oberteil von Proenza. Was trägt die Frau da für bedruckte Jeans? Solche will ich auch, und zwar pronto!

Ganz ehrlich: wer sagt da noch, Einkaufen mache glücklich? All die neuen Kleider und Handtaschen und High Heels, die ständig in den Schaufenstern aufploppen und auf der Stelle gekauft werden müssen, weil man zwar schon sieben andere schwarze Hosen, aber keine in ausgerechnet diesem ganz besonders originellen Schwarz im Schrank hängen hat?  Auf lange Sicht bedeutet diese dauernde Jagd gar keine Freude. Denn alle Wünsche kann man sich, wenn man nicht gerade in Real Estate Karriere macht, auch mit zehn verschiedenen Kreditkarten nicht leisten. Und das ist, wenn man zu viel darüber nachdenkt, reichlich frustrierend. Ich habe mir vor drei Tagen einen neuen Pullover von Acne gegönnt. Anstatt mich darüber zu freuen, dass ich darin bald durch das herbstliche New York spazieren werde, bin ich betrübt, weil ich jetzt kein Geld mehr für die tollen Stiefel von Tibi übrig habe… Hallo, aufwachen! Wie bekloppt kann man eigentlich sein?

Oder ist es vertretbar, wenn man sagt, dass man einfach die große Auswahl schätzt, die ein überquellender Kleiderschrank zu bieten hat? Es ist ja nicht so, dass ich diejenigen Kleider, die ich vor vier Wochen gekauft habe, nun nie wieder anziehen will, bloß weil ich gerade etwas Brandneues erworben habe. Gerade wenn man regelmäßig in hochwertige Designerstücke investiert, bleibt der Reiz der Neu-Eroberung oft über mehrere Jahre erhalten. Und allein durch die höheren Preise wird die Shopping-Wut ja gleich schon mal deutlich eingeschränkt – anders, als wenn man alle drei Wochen bei Zara reinspaziert und sich dort einmal quer durch das Sortiment shoppt. Das wechselt beim zwielichtigen Spanier übrigens im Drei-Wochen-Takt und generiert dadurch bei der Kundschaft dauerhaft das Gefühl, schon wieder einkaufen gehen zu müssen. Die Frage ist bloß: was war zuerst da – das Angebot oder die Nachfrage? Kaufen wir deshalb so viel, weil es ständig etwas Brandneues im Schaufenster gibt, was wir unter gar keinen Umständen verpassen dürfen? Oder verlangen wir immer mehr wieder frischen Nachschub für den Kleiderschrank, weshalb die Geschäfte permanent Neuheiten liefern müssen?

Was würde wohl passieren, wenn ich ein Jahr lang keine Kleider einkaufen dürfte? Am Anfang wäre es wohl wie bei jeder Fastenkur: das Grauen des kalten Entzugs. Dann irgendwann würde ich aufhören, mich für Schaufenster und Onlineshops zu interessieren und anfangen, meine Sammelwut auf einen anderen Bereich auszudehnen: Schallplatten vielleicht. Oder kupferne Bratpfannen. Hat nicht jede/r eine Schwäche für irgendwas, wovon er/sie gelegentlich mehr kauft, als er/sie tatsächlich benötigt?

Wahrscheinlich gibt es nur eine Lösung für das Dilemma: die gute alte Einkaufsliste, auf der man fünf Dinge aufschreibt, die man in der anstehenden Saison wirklich erwerben möchte. Einen schicken Pullover. Eine hellblaue Winterjacke. Einen ausgefallenen Rock. Einen Lederrucksack. Ein Paar Stiefel. Maximal zwei Posten kommen als frei verfügbare Joker für spontane Lustkäufe hinzu – einfach deshalb, weil man nie weiß, welcher herrliche Kaftan einem beim nächsten Strandurlaub in der entzückenden Boutique des Badeorts begegnen wird. Selbst wenn ich so viele Kleider besitze, dass ich damit eine ganze Schulklasse kostümieren könnte, darf es trotz aller Unmoral doch tatsächlich nicht so verwerflich sein, sein hart verdientes Geld auch ausgeben zu wollen. Restaurants, Boutiquen, Kaufhäuser – all das sind Orte des Konsums, aber auch des Lebensgenusses. Allerdings auch nur, solange der Konsum nicht zur Hetzjagd wird. Und der Lebensgenuss nicht zur chronischen Abschaltung des Sättigungsgefühls führt.

Bilder oben: „The Art of Shopping“, Interview Magazine

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