Der Busen ist zurück

UND DAS SCHÖNER DENN JE


Das wahrscheinlich aufregendste Ereignis, das sich je in der Karriere von Angela Merkel abgespielt hat, begab sich an einem Frühlingsabend im Jahr 2008, als die Bundeskanzlerin zu Gast im Osloer Opernhaus war. Frau Merkel lauschte an diesem Abend der Oper „In 80 Tagen um die Welt“ von Gisle Kverndokk, aber diese Information ist wirklich nebensächlich, wenn wir uns daran erinnern, in welchem Outfit die Merkel an jenem Abend auftrat: sie trug ein samtenes schwarzes Abendkleid mit Dekolleté von geradezu barocken Ausmaßen, und mauserte sich damit wohl zur meistfotografierten Politikerin des Jahres. Oder des Jahrzehnts.

Bis heute frage ich mich, wie viel Kalkül Frau Bundeskanzlerin damals wohl in dieses Dekolleté gesteckt hat. Purer Zufall, dass sie an jenem Abend zu ausgerechnet diesem Kleid griff? Wollte sie ihre Solidarität mit Femen bekunden, der ebenfalls im April 2008 gegründeten Bewegung ukrainischer Frauenrechtsaktivistinnen? Oder den iranischen Despoten Ahmadinedschad provozieren? Jedenfalls unterhielt sich die Welt in den darauffolgenden Tagen über wenig anderes als Merkels übrigens ganz bemerkenswert straffen Vorbau. Die deutsche Bundeskanzlerin hatte das Gegenteil von dem getan, was die Welt von ihr erwartete: nämlich im hochgeknöpften Blazer zu erscheinen, die Hände zur Raute gefaltet und den Pony brav in die Stirn gekämmt. Allein damit wird deutlich, wie viel Macht im Busen schlummert. Bis heute sorgt er für kontroverse Diskussionen. Und lässt sich partout nicht ignorieren: denn der Busen ist das Aushängeschild des weiblichen Körpers, und der weibliche Körper im Fokus der Debatte um Frauenrechte und Feminismus, um weibliche Identität und Schönheitsideale. Mit Busen kann man heute Politik machen.

Die Modewelt hat den Busen lange Zeit ignoriert. Bauch, Schultern, Knöchel, Rücken – jedes Körperteil hatte in den letzten Jahren mal Hochsaison, nur der Busen blieb dank Layering– und Oversize-Trend stets sorgsam verborgen. In der Damenmode gelten heute Androgynität und maskuline Lässigkeit als modern; mit Riesenmänteln, weiten Hemden und hochgeschlossenen Tops glauben die Designer, uns Frauen für das Jahrhundert der weiblichen Machtergreifung zu wappnen. Ist das wirklich so? Werden wir stärkere Frauen, wenn wir uns wie Männer anziehen? Während ich diese Zeilen schreibe, trage ich ein Herrenhemd ohne BH drunter. Ich trage fast nie einen BH, meine Brust hat in der siebten Klasse aufgehört zu wachsen, und bisher habe ich das nicht bedauert, denn ein Großteil der aktuellen Mode scheint primär für flachbusige Frauen gemacht zu sein – was man allein schon daran erkennt, das auf den Laufstegen fast nur klapperdünne und garantiert busenfreie Models unterwegs sind.

Ein Blick zurück in die Kulturgeschichte des Busens offenbart, dass das bekanntermaßen nicht immer so war: im Barock, als Frauen wenig mehr zu tun hatten als Torte zu essen und Kinder zu zeugen, gehörte der opulente Balkon, exponiert durch Korsett und Mieder, zum guten Ton. Damit sah Frau wohlgenährt und somit gebärfähig aus. Interessant: nur 40 Jahre nach Marie Antoinettes Tod durch die Guillotine malte der französische Künstler Eugène Delacroix das weltberühmte Gemälde „La Liberté guidant le peuple“ (=Die Freiheit führt das Volk) – und das Erste, was einem auf diesem Bild ins Auge springt, ist Frau Freiheits Busen, komplett entblößt. Offenkundig ist sie dort gerade viel zu sehr damit beschäftigt, das Volk anzuführen, als dass sie genug Zeit hätte, sich was Ordentliches überzuziehen. Liberté und Merkel, das sehen wir an diesem Bild, haben also einiges gemeinsam – und es hat nichts mit jeglicher Degradierung zum Sex-Objekt zu tun.

Im schönsten Kontrast zu diesen hoffnungslos überretouchierten und übersexualisierten Bildern steht das Editorial im aktuellen System Magazine, für das Juergen Teller Lara Stone fotografiert hat. Laut offiziellen Meldungen wurden die Bilder nicht retouchiert. Lara Stone hat kürzlich ein Kind zur Welt gebracht. Im ersten Moment wirken die Fotos abstoßend. Auf den zweiten Blick sind sie wunderschön, weil man hier endlich einmal sieht, wie eine Frau mit Brüsten wirklich aussieht. Und wozu diese Brüste tatsächlich vorgesehen sind. Hier ist nichts gestellt, nichts aufgehübscht für gierige Augen.Der Busen ist das Symbol der Weiblichkeit. Er ist nur deshalb in Verruf geraten, weil viele Leute Weiblichkeit mit Über-Sexualisierung verwechseln, was wiederum daran liegt, dass ein stattlicher Vorbau auf Männer erotisierend wirkt. Moderne Frauen (und Männer) denken, dass ein offensives Dekolleté von Intellekt und „inneren Werten“ ablenke und den Fokus einzig auf die sexuelle Potenz der Frau richte.
Dieses Image entsteht durch das, was uns in der heutigen Gesellschaft als perfekter Busen verkauft wird. Gerade ist der neue Pirelli Kalender erschienen, mit 12 wunderschönen Supermodels, allesamt mit makellos geformten Brüsten ausgestattet. Wer hängt sich diesen Kalender eigentlich an die Wand? Männer oder Frauen? Keine Frau sieht aus wie die Frauen in diesem Kalender, nicht mal die Models selbst. 
Im schönsten Kontrast zu diesen hoffnungslos überretouchierten und übersexualisierten Bildern steht das Editorial im aktuellen System Magazine, für das Juergen Teller Lara Stone fotografiert hat. Laut offiziellen Meldungen wurden die Bilder nicht retouchiert. Lara Stone hat kürzlich ein Kind zur Welt gebracht. Im ersten Moment wirken die Fotos abstoßend. Auf den zweiten Blick sind sie wunderschön, weil man hier endlich einmal sieht, wie eine Frau mit Brüsten wirklich aussieht. Und wozu diese Brüste tatsächlich vorgesehen sind. Hier ist nichts gestellt, nichts aufgehübscht für gierige Augen.

Ein Skandal kommt selten allein: außer Pirelli-Schönheiten und Lara-Stone-Editorial hat in den letzten Tagen noch ein anderes Busenwunder für Furore gesorgt – eine reichlich eingeölte Kim Kardashian präsentierte sich nackt im Paper Magazine und verkündete in diesem Aufzug ihr „Break the Internet“-Manifest. Außer meiner NYU-Kunstgeschichtsdozentin, einer kämpferischen Feministin, hat sich über diese Bilder allerdings wohl kaum einer ernsthaft aufgeregt. Eine nackte Kim Kardashian ist doch nun wirklich nichts Neues, und die Diskussion über ihre niveaulose Kulturbanausigkeit erst recht nicht, tatsächlich gibt es da gar nicht mehr viel zu diskutieren, sind wir uns nicht sowieso alle einig? Kim Kardashian mit eingeölten Hupen ist ungefähr so aufregend wie ein schlecht gespitzter Bleistift.
Der Busen ist zurück. Aber nicht der falsche, retouchierte, ölglänzende, exponierte, perfekte, über-sexualisierte Modebusen, sondern der, den 50 Prozent der Erdbevölkerung tatsächlich mit sich herumträgt – als Identitäts- und Distinktionsmerkmal, als stolzes Symbol für Weiblichkeit und all die herrlichen Charaktereigenschaften, die mit unserem Geschlecht einhergehen. Deshalb taugt der Busen ja auch immer noch als Schockmittel: wenn eine Femen-Aktivistin ihr T-Shirt auszieht, dann propagiert sie die Macht der Frauen mit deren augenfälligsten Exponat. Und doch ist und bleibt der Busen zwischen all dem feministischen Geschrei auch immer noch das, was er zu Marie Antoinettes Zeiten mal war: ein wirklich reizender Anblick.

Der Busen ist das Markenzeichen der Frau. Jedes Exemplar sieht anders aus. Unser Busen sagt viel mehr über unseren Innenleben aus, als wir glauben: ein Mädchen, das in der vierten Klasse schon Doppel-D trug, wird ein anderer Mensch werden als die knabenhafte Athletin, die im ausgewachsenen Alter immer noch so platt ist wie eine norddeutsche Kuhwiese. Und genau deshalb gehört kein Busen versteckt, nicht einmal unter dem schönsten Céline-XL-Hemd. Unsere schlaue Bundeskanzlerin wusste das natürlich schon vor sechs Jahren.

Gleicher Meinung ist übrigens auch das NY Magazine, das neulich, wohl zum Anlass des Comebacks des Busens, durch New York spaziert ist und Frauen jeden Alters um eine Zeichnung ihres Vorbaus gebeten hat. „In cafés and bars, on playground benches and on the way to work, women laughed when they heard the question, disparaged their drawing abilities, and gave it a shot.“ Die Resultate sind so amüsant wie rührend – und beweisen vor allem eines: die meisten Frauen scheinen wirklich froh zu sein, einen Busen zu haben. Warum ihn also der Welt vorenthalten?

Alle Zeichnungen über The Cut/NY Magazine