Gerade war ich für vier Tage zur Modewoche in Paris. Das war sehr schön, ich habe die Schauen von Dries van Noten und Christian Dior gesehen und Tommy Ton getroffen und mich im Jardin des Tuileries gesonnt und nebenbei ziemlich viel Geld für Essen ausgegeben. Paris Fashion Week bedeutet für Clairette simultan Paris Food Week, an jeder Straßenecke lauert hier schließlich ein unwiderstehlich knuspriges Baguette, an dem man selbst mit größter Disziplin schwerlich vorbeikommt. Also, ich jedenfalls. Beim Anblick der vielen dünnen Beine, die zur Modewoche durch Paris rennen, scheint mir nämlich, als sei ich der einzige Mensch, der in dieser Stadt tatsächlich auch mal was essen geht. Weil ich also die einzige hungrige Schauenbesucherin weit und breit war und alle anderen immer viel zu gestresst wirkten, um auch nur eine Banane zu schälen, bin ich vier Tage lang allein ins Restaurant gegangen.
„Findest du das nicht komisch?“ fragen mich manche Leute, wenn ich ihnen erzähle, dass ich mich tatsächlich ohne Gesellschaft in ein französisches Bistro setze. Nein, ich finde das nicht komisch. Ich fühle mich nicht beobachtet oder dergleichen. Ganz im Gegenteil, die anderen Leute fühlen sich von mir beobachtet, denn da ich keinen Gesprächspartner habe, vertreibe ich mir die Zeit damit, meine Tischnachbarn mit eindringlich stierenden Blicken zu irritieren. Ha, geblinzelt!
„Aber gerade am Abend geht man doch der Geselligkeit wegen ins Restaurant!“ sagen meine skeptischen Freunde dann weiter. Stimmt. Abendessen ohne Gesellschaft gilt immer noch als bemitleidenswert. Allein im Café zu frühstücken oder Mittags einen Salat essen zu gehen ist dagegen längst salonfähig geworden. Niemand beäugt dich misstrauisch, wenn du morgens ohne Gegenüber einen Kaffee trinkst und die Zeitung liest, wobei es auch da in Einzelfällen ein bisschen bizarre werden kann.
Ich habe in Paris morgens immer in der Boulangerie Poilâne gefrühstückt. Das Café war um 9 Uhr menschenleer, und das, obwohl Poilâne weltberühmt für seine tartines und diese unfassbar köstlichen Schokoladencroissants ist. Aber wie gesagt, mein guter Hunger und ich sind in Paris in schlechter, nämlich gar keiner Gesellschaft. So saß ich also mutterseelenallein bei Poilâne, trank Kaffee und Orangensaft und fing irgendwann mit dem netten Kellner an zu plaudern. So etwas passiert schnell, wenn man allein im Café sitzt. Ich plapperte mich so richtig in Fahrt, alles auf Französisch natürlich, wobei das morgens noch etwas eingerostet ist. Meine Zunge muss sich für den Gebrauch der Fremdsprache erst deblockieren, wofür ich mich zwischendurch entschuldigte und sagte:
„Le matin, c’est comme si elle était bloquée, ma…“ Weil mir das Wort für Zunge nicht einfiel, streckte ich sie kurzerhand heraus und zeigte mit dem Finger darauf. Der Kellner war entsetzt. Wahrscheinlich dachte er, ich wolle ihm einen Zungenkuss anbieten. Was lernen wir aus dieser Situation? Ohne Gesellschaft im Café zu frühstücken ist absolut in Ordnung, so lange man nicht den Anschein erweckt, man habe in seiner Verzweiflung beschlossen, den Kellner flach zu legen. Ein einsames Mittagessen geht in der Regel ebenfalls klar. Am besten nimmt man ein Buch oder einen Notizblock oder französische Karteikarten mit und tut so, als wäre man wahnsinnig occupé und habe echt keine Zeit für etwas so Profanes wie Geselligkeit.
Aber wie steht es nun mit dem Dinner? Kann man sich mit sich selbst zum Abendessen verabreden? Sieht man da nicht richtig unbeliebt aus, so ganz allein mit sich und seinem Rotweinglas? Abends im Restaurant kann man auch nicht Zeitung lesen oder sich durch irgendwelche Notizen arbeiten. Denn dann scheint man nicht nur vereinsamt, sondern auch bedenklich arbeitswütig. Gleich zwei Attribute, mit denen kein Europäer in Verbindung gebracht werden will.
Am Donnerstagabend ging ich ins Restaurant 404 im Marais. Das 404 ist ein toller Laden mit exotisch-orientalischer Ausstattung, eng zusammen stehenden Tischchen und schummriger Beleuchtung. Man bekommt dort ganz exzellente marokkanische Spezialitäten, zum Beispiel Tagine mit Lamm, Pflaumen und Mandelkernen, Auberginensalat oder Couscous mit Merguez. Egal was man bestellt, als erstes serviert der Kellner einen großen Korb ofenwarmen Fladenbrots.
Ein Glück, dass ich allein da war! So musste ich den Brotkorb mit niemandem teilen. Oder mir anhören, ich solle weniger Brot essen. Das nervt mich immer tierisch, wenn ich in Gesellschaft esse: entweder die anderen schnappen Dir sofort das Brot weg (so ist das, wenn ich mit meiner Familie ins Restaurant gehe – die Beermänner sind eine Sippe leidenschaftlicher Brotesser). Oder aber Du bist die einzige, die Brot isst, weil alle Deine Freundinnen nach 15 Uhr auf Kohlenhydrate verzichten. Sich in Gesellschaft anderer allein mit Brot vollzustopfen ist ein bisschen frustrierend. Ohne Gesellschaft ist es ein besonderes Vergnügen.
Ein weiterer entscheidender Vorteil der einsamen Nahrungsaufnahme: man isst langsamer und bewusster, weil man sich nicht gleichzeitig auf ein tiefgründiges Gespräch oder eine politische Debatte konzentrieren muss. Im Fokus steht die Beschäftigung mit dem Essen – eine Praxis, die in unserer heutigen Gesellschaft der Lunch- und Dinnermeetings leider richtig aus der Mode gekommen ist. Ich hatte neulich einen Termin mit zwei potenziellen Geschäftspartnerinnen zum Mittagessen. Dabei musste ich Ideen vortragen, Englisch reden und nebenher meinen Salat aufessen. Weil ich mich so auf das Gespräch konzentrierte, blieb der Salat liegen. Nach dem „Lunch“ war ich hungriger als vorher. So ist das heute: in einer leistungsorientierten Gesellschaft kommt die bewusste Nahrungszufuhr entschieden zu kurz. Zu Zwecken der ständigen Selbstoptimierung muss man aus jeder Mittagspause einen Businesstermin machen. Und sich auch sonst immer in Gesellschaft anderer aufhalten, vor allem im Restaurant. Denn wer alleine isst, sieht aus wie ein Versager.
„Wir werden von Kindesbeinen an dazu erzogen, Momente des Genusses mit anderen zu teilen – ob aus Prahlerei oder liebevoller Fürsorge“, schreibt die Vogue zum Thema und stellt gleich das passende Buch von Friederike Schilbach vor. Es heißt Dinner for One – Vom Glück, in der Küche eine Verabredung mit sich selbst zu haben. „Wer alleine is(s)t, ist einsam“, so laute die allgemeine Annahme. Ein Irrtum: denn tatsächlich alleine essen können nur Leute, die gerade nicht einsam, sondern mit sich selbst im Reinen sind. Für chronisch vereinzelte und verunsicherte Menschen bedeutet ein Dinner ohne Gesellschaft Folter. Für Leute mit gesundem Selbstbewusstsein ist es gar kein Problem. Sie können mit besonderer Sorgfalt die Menükarte studieren, anschließend das Interieur des Restaurants bewundern, den Brotkorb leeren, ohne sich dick zu fühlen, mit den Kellnern schäkern, vielleicht sogar ein Gespräch mit den Leuten am Nebentisch beginnen. Oder einfach still sitzen und vor sich hin meditieren. Wann tut man so etwas heute noch, in einer Zeit, in der die Müßigkeit unmodern geworden ist?