Warum wehrt ihr euch nicht?

DIE #METOO-BEWEGUNG IST GROSS UND WICHTIG. SIE HAT ABER EINEN FEHLER

 

Seitdem Harvey Weinstein entlarvt ist, täglich fünf neue Schauspieler / Produzenten / Politiker unter Sexismus- oder Belästigungsverdacht geraten und plötzlich jede Frau eine Geschichte zum Thema zu erzählen hat, frage ich mich fieberhaft, was mir entgangen ist. Ich versuche mich zu erinnern, ich strenge mich wirklich an. Ich durchforste mein Gedächtnis: War da was? Aber mir fällt nichts ein. Ich glaube, ich bin noch nie sexuell belästigt worden. Oder habe ich was übersehen? Wurde ich belästigt, ohne es zu merken? Die Vorstellung klingt ein bisschen gruselig. Hätte ich aufmerksamer sein sollen? Oder war da gar nichts, wenn ich es gar nicht bemerkt habe? Ich habe darüber nachgedacht, ob mir etwas entgangen sein könnte, weil ich diese Debatte von Anfang an zwar mit großer Anteilnahme für die Betroffenen, aber ansonsten erstaunlich nüchtern verfolgt habe – und weil mich schon die ganze Zeit etwas daran stört.

Natürlich habe ich Sexismus erlebt. Man hat mir auf der Straße hinterher gepfiffen oder mich mit „Hey beauty“ angesprochen. Ich habe diese Sprüche nicht als Komplimente verstanden, sondern mich wie Freiwild gefühlt. Ein Freund fragte mich letztes Jahr, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm und seinen Kollegen auszugehen, er suche noch nach einer „attraktiven Begleitung“. Am nächsten Tag habe ich ihm erst meine Meinung gesagt und dann einen Text darüber geschrieben. Ich bin in einem Nachtclub und in einem New Yorker Taxi geküsst worden, ohne dass ich darauf vorbereitet gewesen wäre oder darum gebeten hätte. Im Club habe ich gesagt: „Ich gehe!“, aus dem Taxi bin ich einfach ausgestiegen. Ja, das waren keine super Momente. Aber als Opfer gefühlt habe ich mich nie.

Genauso – als seien wir Frauen wehrlose Opfer – wird aber gerade über alle Arten von Sexismus und sexueller Belästigung diskutiert. Es sind teils furchtbare Erlebnisse, von denen Frauen in aller Welt berichten, und dass es richtig und extrem wichtig ist, dass sie endlich erzählt werden und übergriffige Männer lernen, dass ihr Verhalten Konsequenzen hat, ist vollkommen klar. Aber mich stören zwei Dinge: Unter dem Hashtag #metoo werden gerade sehr unterschiedliche Härtegrade von Sexismus und sexueller Belästigung zusammengefasst. Anzügliche Bemerkungen sind völlig daneben, aber eine Vergewaltigung ist doch noch etwas ganz anderes. Beides in denselben Topf zu werfen finde ich gefährlich. Und: In vielen dieser Berichte sind die Frauen immer in der Opferrolle. Kaum eine erzählt, dass oder wie sie sich gewehrt hat.

Meine von mir sehr geschätzte Kollegin Carolin Würfel hat gestern einen Text auf ZEIT Online veröffentlicht, in dem sie zehn Männer der sogenannten Berliner „Kulturelite“ aller möglicher Vergehen bezichtigt. Sie schreibt, ihr seien die Tränen über das Gesicht gelaufen, nachdem sie die Namen der Männer auf einem Zettel aufgelistet habe. Sie schreibt: „Wir Frauen in diesem Betrieb schützen Euch seit eh und je. Wir, die Euch und Eure Kumpels in den Redaktionen und großen Medienhäusern umgeben, wissen um Eure Fehltritte. Wir decken Eure Taten.“ Wieso eigentlich, frage ich mich? Sie berichtet von einem „Künstler, der Frauen zum Sex zwingt“, von einem „Kurator, der seine anzüglichen Bemerkungen nicht stecken lässt.“ Das ist beides schlimm, denke ich, aber trotzdem nicht das Gleiche. Sie erwähnt auch einen Gastronomen, „der Kokain gegen Oralverkehr tauscht.“ Ein Leser kommentierte unter dem Text: „Darauf sollte sich keine Frau einlassen.“ Und ich denke: Er hat recht. Wenn man solche Dinge liest, fragt man sich doch: Frauen, warum wehrt ihr euch eigentlich nicht?

Ich weiß, dass ich großes Glück habe, bisher nie Opfer von schwerem Sexismus oder sexueller Gewalt geworden zu sein. Ich bin dankbar dafür, dass Generationen von Frauen vor mir gegen die sexuelle Unterdrückung gekämpft haben. Mir hat nie ein Chef das Angebot gemacht, gegen Sex eine bessere Position zu bekommen. Ich weiß auch, dass ich stark bin und laut und dass es mir möglicherweise leichter als anderen Frauen fällt, einem Mann ins Gesicht zu sagen, was ich von seinem Benehmen halte. Mir ist auch klar, dass es ziemlich aussichtslos ist, sich gegen einen 100 Kilo schweren Mann zu wehren, mit dem man in einem Hotelzimmer eingesperrt ist. Ich finde Männer, die ihre Machtposition ausnutzen, um gegenüber Frauen anzügliche Sprüche zu bringen oder sie gar zu sexuellen Handlungen zu zwingen, abscheulich.

Und doch glaube ich, dass viele Frauen, die in den letzten Wochen unter dem Banner von #metoo von ihren Erlebnissen erzählt haben, in der Rolle des Opfers feststecken. Diese Rolle hat leider auch etwas Eitles. Ich spreche aus eigener Erfahrung: Weil ich das Gefühl hatte, auch eine #metoo-Geschichte auspacken zu müssen, erzählte ich Freunden von dem Taxi-Vorfall. Dann fiel mir ein, dass ich mich damals überhaupt nicht von dem Mann bedroht oder belästigt gefühlt hatte. Er war nett und fand mich offenbar toll. Als ich aus dem Auto ausstieg, guckte er enttäuscht. War das überhaupt Belästigung? Trage ich mit dieser Story nicht eine Lappalie zu einer Debatte bei, die zur Klärung sehr viel größerer Vergehen, wie etwa Vergewaltigung oder Nötigung, genutzt werden sollte? Es gibt übrigens auch Frauen, die ungefragt Männer küssen. Da würde man allerdings nie von Belästigung sprechen, denn jeder würde sagen: Der Mann kann sich ja wehren. Aber das können Frauen auch. Nicht immer, zumindest nicht immer gleich. Aber sie können es.

In einem Interview mit dem Magazin The Cut erklärt die Sexualtherapeutin Alexandra Katehakis auf die Frage, warum Männer vor Frauen masturbieren: „There’s a sadism and a cruelty to it — the more she weakens the more sadistic he gets. If she were to stand up to him or come after him, he [would likely] back down very quickly. Actually, he would lose all of this power.“ Klar, auch das ist leichter gesagt als getan. Aber das Prinzip finde ich interessant.

Warum verschweigen die Frauen der Berliner Kulturelite die Übergriffe der zehn Täter? Dass Carolin Würfel in ihrem Text keine Namen nennen will, ist verständlich. Aber warum geht sie nicht zur Polizei und zeigt den Künstler, der Frauen zum Sex zwingt, an? Kann man einem Galeristen, der dumme Sprüche macht, nicht seine Meinung ins Gesicht sagen? Muss ich mein Kokain bei dem Gastronomen kaufen, der dafür Oralverkehr verlangt? Nee, oder? Ich kann ihm, auf die Gefahr, dass er mich nie wieder in sein Restaurant lässt, auch eine runterhauen und ihm sagen: Steck dir dein Koks sonst wohin.

Frauen, die sich nicht wehren, sind nicht schuld. Der Mann, der seine Machtposition ausnutzt, seine Finger nicht bei sich lassen kann und seine Gelüste nicht unter Kontrolle hat, ist schuld, und zwar immer. Aber gegen das Gefühl der Ohnmacht, gegen das Gefühl, klein zu sein, dagegen könnten wir Frauen was tun. Wir könnten aufhören, von uns als Opfern zu sprechen, und anfangen, darüber zu reden, wie wir uns selbst verteidigen können. Damit wäre, glaube ich, allen sehr geholfen.

Foto: Eva Baales für L’Officiel Italia