Unter Glück hatte ich mir eigentlich was anderes vorgestellt

IRGENDWAS FEHLT

Eigentlich würde ich mich als ziemlich glücklichen Menschen bezeichnen. Ich habe eine Familie und Freundinnen, die immer zu mir halten, einen Freund, der mich besser kennt als ich mich selbst, einen Beruf, für den ich mich mit Menschen unterhalten darf, die viel schlauer sind als ich, eine Wohnung mit Balkon, ein New Yorker-Abonnement und genug Klamotten, um eine halbe Schulklasse einzukleiden. Ich kaufe Bio-Äpfel und das „gute“ Olivenöl. Ich kann es mir sogar leisten, hin und wieder in ein Fitnessstudio zu gehen, in dem man 23 Euro für 45 Minuten Fahrradfahren bezahlt. Komischerweise war es ausgerechnet dieses Fitnessstudio, in dem ich mich neulich nach 20 Minuten Strampeln fragte, ob ich eigentlich wirklich glücklich bin oder nur so aussehe.

Irgendwas fehlt, dachte ich.

An jenem Montagabend war es vor Beginn des Kurses still in der Umkleidekabine des Fitnessstudios gewesen. Die Frauen wechselten keine Blicke, sondern schauten aneinander vorbei, während sie sich umzogen, ich auch. Jede von uns schien sich allein für die letzte zu meisternde Etappe dieses Tages zu sammeln. Wir waren, so sah es aus, definitiv nicht zum Vergnügen hier.

Der Trainer redete die ganze Zeit in sein Mikrofon. Ich verstand wenig von dem, was er sagte, weil die Musik so laut war. Irgendetwas muss ich trotzdem richtig gemacht haben, jedenfalls war es unglaublich anstrengend. Nach zehn Minuten lief mir der Schweiß aus den Haaren. Alle drei Sekunden schaute ich auf den Bildschirm meines Fahrrads. Ich hätte den Kalorienverbrauch, die bereits verstrichenen Minuten und die Wattzahl gerne ignoriert. Aber es war unmöglich, nicht hinzusehen. Ungefähr 30 Leute radelten nebeneinander im Raum, aber von ihnen bekam ich wenig mit. Nach der Hälfte dachte ich: Das alles jetzt noch mal, dann habe ich es geschafft. Ich sah mich im Spiegel verzweifelt strampeln, mein Rücken fing an zu brennen, die Musik pochte in meinen Ohren, und plötzlich wusste ich gar nicht mehr, warum ich überhaupt hier war, wie es so weit hatte kommen können, dass ich 23 Euro dafür bezahlte, auf einem Fahrrad zu sitzen, das sich nicht fortbewegte, während ich mich danach sehnte, dass es vorbei war.

Den „Versuch, traurig und gestresst glücklich zu werden“, nennt Antonia Baum solche Unternehmungen in ihrem neuen BuchStillleben“. Das kommt mir sehr bekannt vor: Dass man in einem Zustand, der sich definitiv nicht wie Glück anfühlt, versucht, glücklich zu werden (auch wenn sich das für jemanden, der in der sogenannten ersten Welt wohnt und alles hat, was er braucht, natürlich sehr verwöhnt anhört).

In letzter Zeit habe ich jedenfalls immer öfter das Gefühl, den Dingen hinterher zu jagen wie die Comic-Katze der Comic-Maus: immer, wenn ich glaube, die Beute geschnappt zu haben, entwischt sie mir um Haaresbreite. Ich verfasse To-Do-Listen, auf denen jeder abgehakte Posten von einem unerledigten ersetzt wird. Ich schreibe, um geschrieben zu haben – ein Triumph, der allerdings auch nur kurz anhält. Ich mache Sport, um mich hinterher gut zu fühlen, nicht unbedingt währenddessen. Ich verabrede mich mit Freundinnen, weil ich sie gerne sehen möchte, aber auch, um mich nach zwei Stunden mit dem Gefühl verabschieden zu können, etwas für die Pflege meiner sozialen Kontakte getan zu habe. Ich putze die Wohnung, weil mir eine geputzte Wohnung kurzfristig das erleichternde Gefühl verschafft, die Dinge unter Kontrolle zu haben. „Ich putze aber gern!“, erwiderte ich patzig, als mein Freund irgendwann mal anmerkte, ich hätte vielleicht einen Putzfimmel. Dabei glich meine Antwort der einer Raucherin, die behauptet, gerne zu rauchen, obwohl es nur die Befriedigung eines Zwangs ist, die ihr kurzfristig guttut.

Oft habe ich das Gefühl, vor allem ergebnisorientiert zu handeln. Das erreichte Ergebnis kann mich durchaus glücklich machen. Nach dem Fahrradkurs ging es mir blendend. Wenn ich einen Text fertig geschrieben habe, kribbelt es richtig in mir, fast so, als hätte ich getrunken. Im Gegenzug beunruhigt es mich aber, wenn ich mal nichts tue. Ich fühle mich geradezu kriminell, wenn ich an einem Wochentag um 17 Uhr aufhöre zu arbeiten. In letzter Zeit macht mir das Angst. Ich finde die Vorstellung schrecklich, dass mein Glück vor allem vom Erbringen von Leistungen abhängen soll.

Ich sehe viele junge Menschen, vor allem Frauen, die in einer ähnlichen Situation zu sein scheinen. Sie stressen sich wegen allem: ihrer beruflichen Performance, ihrer menschlichen Performance, dem Zustand ihrer Seele, ihrer Figur, ihres Liebeslebens. Sie sind nie zufrieden mit sich und dem was sie tun, sondern sehen den Erfolg immer nur bei den anderen – den vermeintlich schöneren, schlaueren und lässigeren Frauen – , woraus sie schließen, dass sie sich selbst noch mehr anstrengen und sich zu noch mehr Sachen zwingen müssen, die überhaupt keinen Spaß machen. Was wiederum nicht zu mehr Glück, sondern nur mehr Stress führt.

Und zu Ungeduld. Auf Instagram bekommt man ständig unter die Nase gerieben, wie toll es bei den anderen läuft. Und egal, wie klein der Ausschnitt ist, den man dort vom Leben der anderen zu sehen bekommt, das braucht man jetzt auch: Resultate. Und zwar schnell und in allen Lebenslagen. Mithilfe von Apps, die 10-Minuten-Meditationen anbieten, wird organisiert entspannt; in der Mittagspause lässt man sich im Fitnessstudio für den schnellen Kalorienverbrauch 20 Minuten lang Elektroschocks verabreichen; dank Tinder kann man vom Sofa aus Männer nach Brauchbarkeit sortieren. Gegessen wird nicht mehr, weil es gut schmeckt, sondern für eine bessere Haut, einen höheren Grundumsatz, volleres Haar. Funktioniert die gewählte Diät nicht so, wie man sich das vorgestellt hat, wird sofort eine neue ausprobiert. Es geht schließlich um Resultate! Resultate! Allein dieses Wort klingt wie der Befehl eines streng mit dem Taktstock wedelnden Kapellmeisters.

Nur, dass mich keiner falsch versteht: Ich habe kein Burnout, ich will auch nicht weniger arbeiten. Ich glaube nicht, dass der Entspannungs- und Zurück-zur-Natur-Hype unserer Zeit das Stress-Problem löst, sondern, im Gegenteil, nur ein Symptom davon ist. Schließlich wird mit der gleichen Verbissenheit meditiert und Achtsamkeit trainiert, wie in Fitnessstudios gestrampelt und im Büro die To-Do-Liste abgearbeitet wird.

Ich glaube viel mehr, dass Resultate allein nicht glücklich machen. Auch der Weg dorthin sollte sich, so oft es geht, gut anfühlen, und zwar auch dann, wenn das geplante Resultat gar nicht eintritt. Wer immer nur plant – und sich dabei obendrein an anderen orientiert –, dem wird auch immer etwas fehlen. Diesem Gefühl der Atemlosigkeit begegnet man vielleicht am besten, in dem man öfter mal Dinge tut, bei denen es überhaupt nicht um Ergebnisse geht: einen Sport treibt, bei dem der Spaßfaktor höher ist als der Kalorienverbrauch, zum Beispiel tanzen. Ein Bild malt, weil man gerne malt, auch wenn man es niemals aufhängen wird. Gemüse nur dann isst, wenn man auch wirklich Lust auf Gemüse hat, nicht, weil man denkt, dass man Gemüse essen sollte. Feiern geht, weil man sich danach fühlt, nicht, weil das Jungsein scheinbar dazu verpflichtet.  Zeit mit einem Menschen verbringt, weil diese Zeit gut tut, nicht, weil man denkt, dass man jetzt schnell den Menschen fürs Leben finden muss, weil alle anderen es doch auch tun.

Strampeln ist gut, Strampeln macht erfolgreich, Erfolg macht unabhängig, Unabhängigkeit macht glücklich. Und es gehört ja auch zum Leben dazu, Ziele zu haben und pflichtbewusst auf sie zu zu strampeln. Zwischendurch sollte man aber auch mal den Blick von der Fahrbahn nehmen, den Kopf nach rechts und links drehen, und die Aussicht genießen.