Wenn man einen Ohrwurm hat, muss man das Lied, das einem nicht aus dem Kopf geht, einmal in voller Lautstärke hören. Dann ist man den Ohrwurm meistens los.
Zwei Jahre lang hatte ich einen Ohrwurm von New York. Nach vier Monaten Aufenthalt verließ ich die Stadt im Dezember 2014 mit abgelaufenem Visum und der Gewissheit, mich nie mehr irgendwo so zuhause fühlen zu werden wie hier. In den ersten Wochen zurück in Berlin fehlten mir die gigantischen Dimensionen, der endlose Blick über das Wasser und die Brücken hinweg, dieses Gefühl, jederzeit in den Himmel wachsen zu können wie die Wolkenkratzer der Skyline, dieser berauschende Größenwahn, der mich erfasste, wenn ich am East River auf das Headquarter der UN zurannte. Zwei Jahre lang ging mir die Stadt nicht aus dem Kopf. Ich war richtig sauer, wenn ich mitbekam, dass gerade irgendjemand in New York war – und ich nicht. Ich wählte den Sonntagabendfilm aus einer Liste von „Filmen, die in New York spielen“ aus. Ich wurde sentimental, wenn mich bei einem vorbeiwehenden Geruch, einem Lied im Radio oder einem besonders fettigen Stück Pizza das ultimative New-York-Feeling überkam. Ich weiß, dass es nicht besonders schwer und erst recht nicht originell ist, New York toll zu finden. Alle lieben die Stadt, jeder zweite hat schon mal dort gewohnt und eine Geschichte von „seinem“ New York zu erzählen. Dabei klingen diese Geschichten alle ziemlich ähnlich. Auch ich klammerte mich an „mein“ New York wie an einen verflossenen Liebhaber.
Dann hielt ich es nicht mehr aus, buchte mir einen Flug und flog nach New York.
Als ich ankam, regnete es – in meiner Erinnerung hatte in New York nur die Sonne geschienen. Ich wohnte in der gleichen Gegend wie damals, und als ich durch die Straßen lief, wartete ich auf das vertraute Gefühl der überschäumenden Euphorie. Es kam nicht. Ich war schon ganz glücklich, da zu sein. Aber mehr auch nicht. Am nächsten Tag wachte ich auf der Couch meines Gastgebers um 7 Uhr morgens auf, hob den Kopf, sah einen blauen Himmel, einen blauen Fluß und die Skyline von Manhattan, schimmernd im kupferfarbenen Licht. Ich hatte zwei Jahre auf diesen Moment gewartet, und jetzt wusste ich nicht, wie mir zumute sein sollte.Dieses Gefühl hielt die nächsten Tage an, und es wurde immer schlimmer. Ich stellte fest, dass sich die Rückkehr nach New York wie das lange herbeigesehnte Wochenende mit einer in einer anderen Stadt lebenden Fernbeziehung anfühlte. Ich war gestresst. Diese Woche musste perfekt werden, genau wie damals. Ich rannte also durch die Gegend und suchte nach alten Erinnerungen. Die Lower East Side hatte ich geliebt, für ihr heruntergekommenes Flair mit den Haushaltswarenläden, Fastfoodfilialen, komischen kleinen Psychopraxen, zugemüllten Grünflächen und lustigen Kneipen, in denen immer etwas los war. Die Halal Foodcarts hatte ich vermisst, obwohl ich dort nie etwas zu essen gewagt hatte, aber der Geruch nach gebratenen Eiern und Bacon, der aus ihnen herausdampfte, war für mich so typisch New York wie die Brooklyn Bridge.
Ich ging zu Whole Foods und kaufte mir organic Ananas. Ich aß einen Avocado-Toast bei Jack Wife’s Freda. Ich joggte über die Williamsburg Bridge und machte selbst erfundene Yogaübungen auf dem Steg der Williamsburg Piers. Ich setzte mich in der Abenddämmerung mit einem Sandwich und dem New York Magazine auf den Washington Square und warf einen Dollarschein in den Hut des Jazztrios. Ich lief von Nolita bis zur 59th Street und schaute mir bei Barney’s Schuhe an, die ich mir nicht leisten konnte. Ich fuhr Subway. Ich fuhr Taxi und feilschte mit dem indischen Fahrer um den Preis. Ich marschierte um den See im Central Park. Ich ging mit Freundinnen in ein schickes Restaurant und knallte am Ende des Essens meine Kreditkarte auf den Tisch, ohne die Rechnung zu überprüfen. Ich kaufte eine viel zu teure Vintage Levi’s Jeans. Ich ging an den Hudson Piers spazieren und erspähte die Freiheitsstatue und wartete auf das Gefühl des Übersprudelns, das mich in New York immer erfasst hatte wie eine Ozeanwelle. Die ganze Zeit dachte ich, Jetzt sei gefälligst glücklich, hier zu sein. Es funktionierte nicht.Was war passiert?
Ich hatte den Fehler gemacht, der auch Partnern in einer Fernbeziehung unterläuft. Man versucht, die perfekte Zweisamkeit in der knappen Zeit auf Teufelkommraus zu erzwingen. Man glaubt, dass auf die wochenlange Sehnsucht automatisch große Leidenschaft folgen muss. So überfrachtete ich diese Reise mit enormen Erwartungen. Ich hörte meinen Ohrwurm in voller Lautstärke. Das machte es mir unmöglich, den Tapetenwechsel einfach mal zu genießen und neugierig durch New York zu laufen wie durch jede andere fremde Stadt. Stattdessen fragte ich mich mit wachsender Panik, wann mein New Yorker Höhenflug abgestürzt war.
Als ich vor zwei Jahren in New York wohnte, war ich wie berauscht von der Stadt. Alle Leute, denen ich begegnete, schienen von irgendetwas Großem zu träumen. Ich fühlte mich ihnen schnell zugehörig – wir alle hatten es irgendwie nach New York geschafft, dann konnte ja jetzt nichts mehr unmöglich sein. Ich konnte mein Glück kaum fassen: New York, die vielleicht legendärste, glamouröseste und verrückteste Stadt der Welt, war jetzt mein Zuhause, der Ort, an dem ich ein Zimmer mietete, in den Supermarkt ging, U-Bahn fuhr und einen Freundeskreis hatte – der Ort also, an dem ich, anders als die Touristen, ein richtiges Leben führte. Weiter über diese Situation zu reflektieren, dazu kam ich gar nicht. Ich war wild und frei in New York, überzeugt, dass dieser Traum nie enden würde, dass sich schon irgendeine Möglichkeit würde finden lassen, hier zu bleiben, denn in New York hatte ich meinen Platz gefunden, und das machte mich unfassbar glücklich.Als ich jetzt zurückkehrte, hatte ich nur ein sehr begrenztes Zeitfenster, um dieses Glück wiederzufinden. Dabei war das Besondere an diesem speziellen Glück ja gewesen, dass es mir einfach so passiert war. Das Gefühl, zur genau richtigen Zeit am genau richtigen Ort zu sein, kann man nicht planen.
Ist es nicht komisch, dass man etwas verlieren kann, obwohl es noch da ist? Ist es nicht seltsam, dass sich der Blick auf die exakt gleiche Skyline zwei Jahre später ganz anders anfühlt? Zwischenzeitlich bereute ich es, überhaupt hergekommen zu sein. Ich hatte das Gefühl, mir mit dieser „Heimkehr“ meine rosaroten Erinnerungen an New York kaputt zu machen.
Das war der Tiefpunkt. Besser wurde es erst, als ich aufhörte, mein altes New York zu suchen. Nostalgie ist schön, aber sinnlos. Mein zwanzigjähriges Ich in New York, mit ausgeliehenem Personalausweis im Portemonnaie und leidenschaftlicher Begeisterung für die amerikanische Konsumwelt und How-are-you-Gesellschaft, würde es sowieso nie mehr geben. Also fing ich an, nach neuen Abenteuern zu suchen. Ich ließ mich von zwei deutschen Freundinnen in einen unterirdischen Pingpongkeller schleppen, in dem gerade ein Jazz-Trio auftrat. Ich ging spazieren in Greenpoint. Ich verbrachte drei Stunden allein im Museum, ohne mich zu langweilen. Und ich fotografierte jedes New-York-Klischee, das mir begegnete: die roten ATMs, die Halal Food Carts, aus Gullideckeln quellende Rauchwolken, gelbe Taxis, Geschäftsleute am Handy, das Empire State Building. Es war schön, Touristin zu sein. Mein richtiges Leben ist jetzt woanders.
Natürlich liebe ich New York immer noch: für seinen Optimismus, seine Leidenschaft, seine unfassbar gute Laune. An meinem vorletzten Abend stand ich auf einer Dachterrasse im Meatpacking District, als die Sonne gerade hinterm World Trade Center versank. Unter mir brummte und summte die Stadt wie ein Bienenstock. New York ist wie das Leben: Hell und dunkel und laut und leise und strahlend und schmutzig und erhaben und abgründig – gleichzeitig.