Zuhause gibt es nicht mehr

MEINE KINDHEIT IST JETZT VORBEI. DARAUF WAR ICH NICHT VORBEREITET

haus-meiner-kindheit-cest-clairette-juli-2017_2Es war das komischste Haus von allen, die wir uns angeschaut hatten. Die Einfahrt war lang und unbefestigt; man konnte nicht ganz sicher sein, ob sie zu einem Haus oder in den Verbotenen Wald führte. Vor dem Eingang stand eine riesige Tanne. Überall waren Tannen, auch der Garten war voll davon; gespenstisch lauerten sie hinter den Büschen und warfen ihre hohen Schatten auf das Haus. Die massive Tür wurde von einem Mosaik aus Glasbausteinen gerahmt. Drinnen war es ziemlich dunkel. Die Eingangshalle war in Regenbogenfarben tapeziert, was einen merkwürdig bedrückenden, geradezu gruseligen Effekt hatte. Überhaupt fand ich das ganze Haus gruselig, die Fassade aus gelbem Backstein, den riesigen Komposthaufen hinterm Fahrradschuppen, den alten Mann, der ausziehen würde, weil er zu alt und das Haus zu groß war. Ich verstand nicht, was meine Eltern hier wollten. Sie kauften das Haus. Dass sie viel mehr Fantasie hatten als ich, wurde mir erst Jahre später klar.

Heute sind meine Eltern aus diesem Haus ausgezogen. Aus dem Haus, in dem ich groß wurde – in dem ich 17 Mal Weihnachten gefeiert, einhundertsechzig Mal die versteckte Fernbedienung im Wohnzimmer gesucht, achtunddreißig Mal aus Langeweile die Möbel in meinem Zimmer umgestellt, fünf (okay, fünfzig) eingebildete Einbrecher im Keller gehört und dem Hund dreihundert Leckerli versteckt habe. Dreitausendneunhundert Mal wurde ich vom Gurren der Tauben vor meinem Fenster geweckt, hundertsiebzig Mal vom Tapsen des Marders auf dem Dachboden. Ich habe im Garten dieses Hauses 680 Äpfel geerntet, fünfhundert Mal unterm Rasensprenger geduscht, sechzig Mal den Rasen gemäht (eine spät entdeckte Leidenschaft), 230 Nacktschnecken eingesammelt, achtzehn Schneemänner gebaut und einen Kuss bekommen (den ersten). Mit dem Auszug meiner Eltern aus diesem Haus geht nicht nur eine Ära vorbei, sondern auch endgültig meine Kindheit. Ich werde nie wieder „nach Hause“ fahren. Ab jetzt fahre ich „zu meinen Eltern“, wie das alle erwachsenen Leute tun. Mit Entsetzen stelle ich fest, dass ich darauf nicht vorbereitet war.

Wenn man ein Kind ist, wünscht man sich ein Zuhause wie ein Puppenhaus: mit Strohdach, Veranda, Ententeich und freundlichen Laubbäumen im Garten, auf denen man herum klettern kann. Mein Traumhaus sah immer ein bisschen so aus wie Bullerbü. Unser Haus hatte mehr Ähnlichkeit mit einem zu groß geratenen Hexenhaus. Ein Architekt wurde engagiert, er machte aus der Garage eine Küche und klebte an die Südseite des Hauses einen braunen Holzklotz, der dem Sechziger-Jahre-Bau eine eigensinnige Fassade gab. Im Garten, der verwinkelt und verwildert war und sich herrlich zum Versteckspiel eignete, wurde eine Terrasse eingelassen, die ich zuerst für einen Swimming Pool hieltDie Regenbogentapete verschwand, und in die Zimmer im ersten Stock wurden große Kippfenster eingebaut, die Licht ins Haus brachten. Wenn man sich im Badezimmer auf den Klodeckel stellte und durch das geöffnete Fenster lugte, konnte man bei den Nachbarn bis ins Wohnzimmer schauen und die Ankunft der Eltern erspähen (schnell den Fernseher ausmachen!). Im Sommer fiel das Sonnenlicht bis spät am Abend durch die Tannen in den Garten. Der Wind rauschte durch die Äste, eine Amsel sang, sonst war es meistens still. Meine Eltern pflanzten Rhododendron und Rosen, die bald an den Regenwasserrohren emporkletterten. Meine Schwester und ich spielten mit Holzklötzen Käseladen an der Gartenmauer. Langsam freundeten wir uns an, das Hexenhaus und ich.haus-meiner-kindheit-cest-clairette-juli-2017Meine Freundinnen wohnten alle näher dran an der Grundschule, in hübschen, von weißen Puppenhäusern gesäumten Straßen. Hier sah es anders aus als bei uns hinten am Wald, aber so richtig weit weg fühlte ich mich erst, als ich aufs Gymnasium kam, was 45 Minuten Schulweg bedeutete, und das auch nur, wenn ich die Bahn nicht verpasste. „Gehört das noch zu Hamburg?“ fragten mich meine Schulkameraden, wenn ich erzählte, wo ich herkam. Sie wohnten im vornehmen Blankenese oder Othmarschen, kleinen Hamburger Käffern, die sich aber als der Mittelpunkt der Welt zu begreifen schienen, schließlich gab es hier alles, was ein Hamburger Unternehmer- oder Anwaltskind so brauchte: Hockey-Verein, Butter Lindner, Block House. In dem Dorf, in dem ich wohnte, gab es eine mäßig gute Eisdiele, einen Teeladen, ein chinesisches Restaurant und zeitweise mehr Handygeschäfte als Einwohner, außerdem hässliche Plattenbauten, „aber nicht da, wo wir wohnen“, wie ich nicht müde wurde zu betonen. „Sky du Mont wohnt übrigens auch hier“, fügte ich oft noch hinzu, aber das interessierte natürlich niemanden.

Als ich älter wurde und anfing auszugehen, fragte ich meine Eltern oft, warum wir so weit weg wohnen mussten und ich als einzige meiner Freunde immer mindestens eine Dreiviertelstunde brauchte, um irgendwohin zu kommen. Keiner wollte mich besuchen, für meine Freunde wohnte ich am Ende der Welt. Manchmal hasste ich unser Haus. Und gleichzeitig liebte ich es mehr als jedes Bullerbü dieser Welt. Denn dieses Haus machte uns zu etwas Besonderem. Wir waren keine von diesen Familien, die in eines der schicken Viertel gezogen war, um dort in einem spießigen Reihenhaus zu wohnen, aber dafür mit der feinen Nachbarschaft angeben zu können. Meine Eltern hatten sich gegen die gute Lage und für das Haus entschieden, das dafür nah am Wald und an der Elbe lag. Ich kannte alle Nachbarn, wohnte von Juni bis September praktisch im Garten und erfand alle möglichen Varianten von Kinder-allein-im-Wald.

Unsere Küche war babyblau; ich weiß noch genau, wie meine Eltern sie aussuchten, ich war nämlich dabei und überzeugt, Zeugin eines schrecklichen Irrtums zu werden. Wer kaufte denn eine babyblaue Küche? Jeden Tag vermisse ich in meiner Berliner Wohnung diese babyblaue Küche. Viertausend Mal muss ich in dieser babyblauen Küche an der Heizung unterm Fenstersims gelehnt, Müsli gegessen und meiner Mutter beim Kochen zugeschaut haben. Und noch öfter muss ich darüber gejammert haben, dass wir nicht näher an der Stadt dran wohnten, sondern tagein, tagaus in die Natur vor unserer Tür starren mussten, auf die Apfelbäume, die Azaleen, die alte Buche, die den Rasen im Herbst unter einer roten Blätterschicht begrub.

Dabei hat mich dieses Haus wie wenig anderes zu der gemacht, die ich bin. Ich war in der Schule keine Außenseiterin, aber ich wusste auch, dass ich nicht ganz dazu gehörte. Bei mir zuhause hing man nach der Schule nicht ab. Man traf sich bei mir nicht zu Videoabenden oder Hausparties. Manchmal ärgerte ich mich darüber, insgeheim war ich aber auch stolz darauf, in meinem Milieu aus dem Raster zu fallen. Das Haus hatte einen ähnlichen Einfluss auf mich wie die Ugg Boots, die ich nie bekam: es erzog mich dazu, eigene Wege zu gehen.

Vor fünf Jahren bin ich aus dem Haus meiner Kindheit ausgezogen, mit der wohligen Gewissheit, jederzeit nach Hause zurückkehren zu können. Damit ist es jetzt vorbei. Das letzte Mal war ich in diesem Jahr an Ostern dort. Das Haus war schon verkauft, und den Karfreitag nutzte ich dazu, mein Kinderzimmer auszumisten. Der Hund kam herein und brachte mir einen Pantoffel, aber helfen konnte er mir nicht. Vor lauter Verzweiflung schmiss ich irgendwann fast alles in die Papiertonne, aus der meine Mutter entsetzt fast alles wieder herausfischte und mich als herzlos beschimpfte. Wie ich denn Schulhefte aus der ersten Klasse wegwerfen könne! Ich bin nicht herzlos, im Gegenteil, ich bin ziemlich melancholisch. Ich muss nur in ein Fotoalbum von vor 2012 schauen und schon fange ich an zu heulen. Ich wollte das Zimmerausräumen und Kindheitbeenden nur schnell hinter mich bringen.

Ich habe mich von dem Haus nicht verabschiedet, ich konnte es nicht. Am Tag nach Ostern verließ ich mein Zuhause, ohne mich noch einmal umzusehen. Es ist ein komisches Gefühl, zu wissen, dass der Ort, der mich in meinem bisherigen Leben am meisten geprägt hat, plötzlich nicht mehr mir gehört.