2018 war das Jahr, in dem ich anfing zu zweifeln

EIN KURZER RÜCKBLICK

2018 war das Jahr, in dem ich anfing, zu zweifeln.

2018 war das Jahr, in dem ich anfing, meine Blog-Artikel nicht mehr direkt in mein Redaktionssystem zu schreiben, sondern in ein Word-Dokument, weil ich Angst hatte, aus Versehen auf „Publish“ zu drücken und irgendeinen beschämenden Mist zu veröffentlichen. Es war das Jahr, in dem ich sehr viele Word-Dokumente mit Texten auf meinem Computer sammelte, die nie veröffentlicht wurden.

2018 war das Jahr, in dem ich mich fragte, ob ich den richtigen Job ausübte, ob ich nicht große Reportagen schreiben sollte statt unterhaltsamer Texte über Mode und Gefühle. Es war das Jahr, in dem ich feststellte, wie verdammt schwer es ist, eine große Reportage zu schreiben. Es war auch das Jahr, in dem ich mich fragte, ob ich wirklich große Reportagen schreiben wollte oder mir nur einbildete, das zu wollen, weil ich es für ehrenwerter und deshalb richtiger hielt.

2018 war das Jahr, in dem ich verstand, dass man durch harte Arbeit und eine steile Karriere nicht unbedingt zu einem glücklicheren Menschen wird. Zumindest dann nicht, wenn man sich vor allem über die Bestätigung definiert, die man bei der Arbeit bekommt (oder nicht bekommt).

2018 war das Jahr, in dem ich in Harlem in einer Bar saß, einem akrobatischen Barmann bei seinen Tricks zuschaute, aus den Lautsprechern das Lied „Escapade“ tönte und ich plötzlich eine schreckliche Sehnsucht danach verspürte, mein geregeltes Leben mit Arbeitsvertrag hinzuschmeißen und auszubrechen. 2018 war auch das Jahr, in dem mich eine Freundin daran erinnerte, dass ich vielleicht nur deshalb so dringend alles hinschmeißen und ins Ausland gehen wollte, weil mir Film, Fernsehen und mein soziales Umfeld in den letzten Jahren eingeredet hatten, dass „man“ das als 24-Jährige so macht.

2018 war das Jahr, in dem ich, obwohl des Surfens völlig unkundig, die Autobiografie eines Surfers las, der seine ganzen Zwanziger praktisch nur mit Surfen verbracht und am Ende trotzdem einen Job beim New Yorker ergattert hatte. Wieder fragte ich mich, wie und warum ich eigentlich alles so schrecklich falsch machte.

2018 war das Jahr, in dem ich von einem jahrelangen Höhenflug, der ungefähr ein Jahr vor dem Abitur begonnen hatte, in die Tiefe stürzte. Ich hatte plötzlich nicht mehr das Gefühl, dass es nur bergauf gehen konnte. Ich hatte jetzt das Gefühl, etwas Großes verlieren zu können, wenn ich nur eine falsche Entscheidung traf. Ich hatte plötzlich Angst vor der Zukunft, und fühlte mich gleichzeitig gefangen in der Gegenwart. Ich hatte das Gefühl, ein viel zu erwachsenes Leben zu führen, mit viel zu viel Verantwortung für einen so kleinen Menschen wie mich, der sich doch immer noch wie ein Kind vorkam, das mal wieder nur den Aus-aller-Welt-Teil in der Zeitung gelesen hatte. Schlecht informiert und ein bisschen blind war ich jahrelang durchs Leben gestürmt, fest davon überzeugt, auf dem genau richtigen Weg zu sein: nach Berlin, nach New York, in die Uni, in die Zeitungsredaktion. Jahrelang war ich nicht gegangen, sondern gehüpft, ich hatte mich kaum beherrschen können vor lauter Euphorie. Alles lag vor mir, ich konnte nur gewinnen. 2018 war das Jahr, in dem ich dieses Gefühl verlor, das Jahr, in dem ich plötzlich auf der Stelle trat, zweifelnd, vor und zurück wippend wie ein Kind, das am ersten Kindergartentag am liebsten die Flucht ergreifen und zurück nach Hause laufen will.

2018 war das Jahr, in dem ich beim Anschauen der Insta-Stories einer ehemaligen Klassenkameradin, die mit ihrem Freund und ihren zwei kleinen Kindern in den Hamburger Vorort zurück gezogen war, in dem wir alle aufgewachsen waren, vor lauter Beklemmung ob dieses Lifestyles nach Atem ringen musste.

Es war auch das Jahr, in dem ich eines Abends um 21 Uhr erschöpft am Mailänder Flughafen saß, eine Mutter mit ihrem Baby beobachtete, und mich aus heiterem Himmel fragte, ob Frauen deshalb Kinder kriegen: weil ihnen ein Kind eine klare, instinktiv zu bewältigende, alternativlose Aufgabe zuweist und damit das Gefühl zurückgibt, genau das Richtige zu tun.

2018 war das Jahr, in dem ich feststellte, dass die Zwanziger die eigentliche Pubertät sind, nur viel, viel härter. In letzter Zeit fühle ich mich, als würde ich einen Häutungsprozess durchlaufen. Das schillernde, funkelnde Bild meines zukünftiges Ichs, das ich in meiner Kindheit von mir gemalt hatte, verblasst immer mehr. Dahinter kommt langsam etwas zum Vorschein, das ganz anders aussieht. Ich sehe einen Menschen, der mir fremd ist, der aber offenbar ich bin. Dieser Mensch ist sehr streng. Er ist voller Härte und Angst, und er zweifelt. Er ist überhaupt nicht extrovertiert. Er ist nicht mehr immer einer Meinung mit seinem Vater. Er geht an einem Donnerstagabend für zwei Stunden mit einer Freundin ins Restaurant, um hinterher erschöpft und mit dem Gefühl nach Hause zu kommen, sofort bei ihr anrufen und sich entschuldigen zu müssen.

2018 war das Jahr, in dem ich verstand, was Zweifel und Verzweiflung miteinander gemein haben. Zweifel können einen verzweifeln lassen.

2018 war das Jahr, in dem ich manchmal das Gefühl hatte, gegen mich selbst zu kämpfen. Es war das Jahr, in dem ich an manchen Abenden ganz allein in der stillen Küche saß, nur das bedrohlich laute Brummen des Kühlschranks neben mir, und plötzlich anfing, in mein Ofengemüse zu weinen, und zwar nicht, weil mein Leben nicht toll war, sondern weil ich mich selbst nicht toll fand, sondern ziemlich lächerlich. 

2018 war das Jahr, in dem ich feststellte, dass Ofengemüse die Materialisierung des Dauerstresses ist, den Frauen sich jeden Tag selbst in dem Glauben antun, alles haben und sein zu können, obwohl das leider gar nicht stimmt. Es stimmt nicht, weil sie es einfach nicht schaffen, ihrem Bauchgefühl zu folgen und einen verdammten Teller Spaghetti mit Pesto zu essen, wenn ihnen danach ist.

2018 war das Jahr, in dem ich so schlimme Rückenschmerzen bekam, das ich zum ersten Mal an einem Arztpraxistresen zu Weinen anfing. Es war das Jahr, in dem ich mich in den glitzernden Ohrring meines Physiotherapeuten verliebte.

2018 war das Jahr, in dem ich mit meinem Freund zusammenzog, obwohl mir auch das viel zu erwachsen für meinen total unerwachsenen Zustand vorkam, ich es aber gleichzeitig nicht erwarten konnte, endlich mit der Person zu wohnen, die meine diversen Leidenschaften teilt, zu denen Marmeladentoast und ironische Wandposter zählen.

2018 war das Jahr, in dem ich meinen toten Hund begrub und zum ersten Mal verstand, was es heißt, jemanden zu verlieren, mit dem man fast sein ganzes bisheriges Leben geteilt hat. Ich schreibe „jemand“, weil mein Hund genau das für mich war, obwohl das Menschen, die noch nie ein Haustier hatten, völlig zu Recht nie verstehen werden. Mein Hund war ein Jemand, eine Persönlichkeit, eine warme, liebevolle Seele, ein Freund. Er hieß Vitus, und er fehlt mir sehr.

2018 war das Jahr, in dem meine total fitte Großmutter, die zuvor immer im Stechschritt um die Alster marschiert war und zwei Treppenstufen auf einmal genommen hatte, krank wurde. So krank, dass ich einmal im Supermarkt zu Weinen anfing (I know – schon wieder), als ich im Kühlregal Götterspeise von Dr. Oetker entdeckte – genau den, den sie früher immer gekauft hatte, wenn meine Schwester und ich zu Besuch kamen.

2018 war das Jahr, in dem ich an einem einsamen, süditalienischen Strand in der Nachmittagssonne einen Pfirsich aß, so langsam und bedächtig, das für einen himmlischen Moment die Zeit stehen blieb.

2018 war das Jahr, in dem ich mich sehr oft daran erinnern musste, dass es überhaupt keinen Sinn macht, sondern total dumm ist, jetzt darüber zu weinen, dass meine Eltern eines Tages sterben werden.

2018 war das Jahr, in dem ich am Strand von Cape Cod einen Seehund aus dem eiskalten, steingrauen Meer auftauchen sah.

2018 war das Jahr, in dem wir mit meiner quietschvergnügten Großmutter, diesem „medizinischen Wunder“, wie mein Vater sie an Heiligabend nannte, Weihnachten feierten, obwohl zu Anfang des Jahres niemand daran zu glauben gewagt hatte.

2018 war das Jahr, in dem ich anfing, frühmorgens spazieren zu gehen, und die Welt dabei in einer unschuldigen und reinen Schönheit kennenlernte, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte.

2018 war das Jahr, in dem ich feststellte, dass Berlin jedes Jahr besser wird.

2018 war das Jahr, in dem ich mir die Haare (am Kopf, nicht an den Beinen) lang wachsen ließ und es zum ersten Mal richtig gut fand, eine Frau zu sein.

2018 war das Jahr, in dem ich in einem Buch las, dass das Leben eigentlich so einfach ist wie Ein- und Ausatmen. Und an dessen Ende ich mir schwor, die Dinge im nächsten Jahr nicht so schwer zu nehmen.