Photo: David Gomez Maestre for Marie Claire UK March 2017 (via)
Es ist mir peinlich, es zu sagen, aber ich habe neulich geheult, weil ich in der Bahn kontrolliert wurde und schon wieder vergessen hatte, mein Ticket zu entwerten. 60 Euro Strafe! Schon wieder! Eine Magenspiegelung hat ergeben, dass ich eine Art chronische Magenschleimhautentzündung habe, mein Magen fühlt sich also ständig so an, als hätte ich einen halben Liter Zitronensaft getrunken. Kommt vom Stress, sagen die Ärzte. Ja, ich habe viel zu tun. Aber ich muss bei meiner Arbeit keine Leben oder Aktienkurse retten. Der Stress in meinem Bauch entsteht, weil ich mich ständig aufrege – und zwar oft über Sachen, die eigentlich gar nicht so schlimm sind.
Das war schon immer meine große Schwäche. Als ich mit 14 ein sterbenslangweiliges Ferienpraktikum bei einem Gourmet-Magazin abbrach, glaubte ich, das sei das Ende meiner Journalistenkarriere. Als ich mit 17 in einen Typen verliebt war, den ich gerade mal drei Tage kannte, dachte ich, an unerwiderter Zuneigung sterben zu müssen. Als ich nach Berlin zog, hatte ich zwei Wochen lang schlaflose Nächte, weil ich keine Wohnung fand (zwei Wochen! Andere Leute suchen zwei Jahre). Bei jeder Schreibblockade weiß ich mit absoluter Sicherheit, dass ich mich auf direktem Weg in die Bedeutungslosigkeit befinde und bald arm und arbeitslos auf der Straße stehen werde. Wenn es im Urlaub regnet, bin ich durch nichts aufzumuntern und glaube an eine Strafe Gottes. Wenn meine Eltern zwei Tage nicht auf meine SMS antworten, bin ich überzeugt, sie wären beim Hundespaziergang gekidnappt worden. Einmal bin ich vor lauter Aufregung die Treppe runtergefallen, weil mein Freund sieben Stunden lang nicht ans Telefon ging und ich dachte, er wäre in der Dusche an einem Herzinfarkt gestorben.
Neulich kam ich abends nach einem langen Tag nach Hause und habe einfach mal ein bisschen geheult. Weil es so kalt war, dass mir der Rücken weh tat, weil ich vergessen hatte, wie die Sonne aussieht, weil ich meine EC-Karte verloren hatte, Wasser in mein Handy gelaufen war, es in meinem Badezimmer schimmelte, Donald Trump kurz davor war, zum Präsidenten vereidigt zu werden, ich sieben bedrohlich nahe Deadlines hatte und morgens, als ich durch den Park rannte und versuchte, mich zu entspannen, in Panik ausgebrochen war, weil ich nicht wusste, wie ich das alles schaffen sollte.
Da habe ich gedacht: so geht es nicht weiter. Ich muss mein Leben ändern. In Emails an Arbeitskollegen schreibe ich ständig: „Kein Problem!“ Die Wahrheit ist, dass ich tatsächlich vieles in meinem Leben problematisch finde. Und ich langsam das Gefühl habe, dass genau das mein einziges Problem ist. Gelassenheit komme mit dem Alter, hat mir meine Großmutter erklärt, und das glaube ich ihr gern, aber ich bin erst 22 und kann bis zum Alter nicht warten. Also habe ich mir eine Diät verordnet: ab sofort finde ich alles kein Problem.
Oh Mann. Hätte ich nur gewusst, worauf ich mich da einlasse.
Meine Diät beginnt an einem Donnerstagmorgen um 7 Uhr, als ich völlig fertig im Bett liege und quasi an der Matratze festklebe. Ich habe mir vorgenommen, heute laufen zu gehen. Aber ich kann nicht. Ich. Bin. So. Müde. „Kein Problem!“ sage ich mir also, während ich mir noch die Decke über den Kopf ziehe, kein Problem, jetzt aufzustehen, im Gegenteil, was gibt es Besseres, als um 7 Uhr früh durch die Kälte zu rennen, während andere Leute im Bett liegen und schlafen. Kein Problem, kein Problem, kein Problem. Ein Wunder geschieht: ich stehe auf. Es funktioniert! Ich ziehe mich an und renne los. Sobald ich draußen bin und mir der Eiswind ins Gesicht bläst, ist es wirklich kein Problem mehr.
Am Abend fahre ich mit dem Fahrrad nach Hause. Es sind ungefähr minus tausend Grad und ich habe meine Handschuhe vergessen. Nach zwei Minuten spüre ich meine Hände nicht mehr. Nach fünf Minuten bin ich überzeugt, dass sie längt abgefallen sind. Kein Problem, sage ich mir also, während ich durch die Eiswüste Berlin strample, kein Problem. Der Winter ist kein Problem, die Kälte, die Dunkelheit, die Nässe, der graue Himmel sind kein Problem, die trockene Heizungsluft, von der ich Nasenbluten kriege, ist kein Problem, meine tiefgefrorenen Hände sind kein Problem. Und siehe da: für einen Moment scheint es wirklich so, als kehre wieder Leben in meine toten Finger zurück.
Es ist erstaunlich: jedes Mal, wenn ich mir erfolgreich eingeredet habe, diese Sache, die mich da gerade in den Wahnsinn treibt, sei überhaupt kein Problem, fühlt es sich an, als würde mir eine warme Brise ins Gesicht wehen. Eine kurzfristige Unbeschwertheit, die gut tut. Doof ist, dass die Erfolgserlebnisse vor allem bei größeren Problemen selten sind und ich leider ziemlich undiszipliniert bin: ständig vergesse ich meine Diät. Dann finde ich zum Beispiel eines Abends einen Mahnbrief von der Verkehrspolizei im Briefkasten, über dessen unverschämten Ton und meine eigene Dummheit, das Knöllchen noch nicht bezahlt zu haben, ich mich eine halbe Stunde lang aufrege, bis mir einfällt, dass ich mir ja eigentlich verboten hatte, mich aufzuregen. Oder es kommt Post vom Finanzamt, die mich daran erinnert, irgendeine mir völlig fremde Summe zu bezahlen, sonst drohe „Vollstreckung“. Wie soll ich mich darüber nicht aufregen? Ich rege mich auf. Ich dampfe vor Wut, ich gerate in Panik. Dann fällt mir ein: kein Problem! Kein Problem, kein Problem, kein Problem. Ich sollte anfangen, Kein-Problem!-Post-Its in meiner Wohnung zu verteilen.An einem Freitagabend habe ich meine Freundinnen zum Essen eingeladen, aber zwanzig Minuten, bevor sie kommen, habe ich noch nicht mal eingekauft, meine Wohnung ist unordentlich, und ich bin so müde, dass ich mich am liebsten in die Badewanne legen und zehn Stunden lang nicht die Augen aufmachen würde. Ich habe vergessen, wie es sich anfühlt, nicht müde zu sein. Ich weiß noch nicht, wie ich diesen Freitagabend bei Bewusstsein überstehen soll, aber irgendwie wird es gehen, denn: Kein Problem. Bin ich halt müde.
Neuerdings habe ich ständig so komische Kopfschmerzen. Hinter meinen Augen drückt und in den Schläfen pocht es. Bevor mir einfiel, dass das kein Problem sein sollte, habe ich die Symptome natürlich gegooglet und mich auf das Schlimmste eingestellt. Aber wie es scheint, habe ich keinen Gehirntumor, sondern brauche einfach eine Brille. Viele Sehschwächen entstünden durch Stress und zu wenig Schlaf, lese ich in irgendeinem Optiker-Forum. Vielleicht ist das mit der ständigen Müdigkeit, die ich gelernt habe, zu ignorieren, doch ein Problem?
An einem anderen Tag bin ich in Aufruhr, weil ich einen Termin mit meinem Chef vergessen habe. Zwei verpasste Anrufe auf meinem Handy, drei Emails mit vielen Fragezeichen. Das kann ich unmöglich kein Problem finden. Was, wenn ich irgendwann meinen Job verliere, weil ich die Dinge zu sehr auf die leichte Schulter genommen habe? Ist die Fähigkeit, in bestimmten Dingen ein Problem zu sehen, nicht auch ein notwendiges Alarmsignal, das mich daran erinnert, zu handeln, bevor es zu spät ist?
Und ist das eigentlich gesund, alles kein Problem zu finden? Dieses sich ständige Überwinden und Zwingen zu Dingen, auf die man ursprünglich keine Lust hatte? Die ständige gute Miene zum bösen Spiel? „Kein Problem!“ sagen die Leute immer. Sie schreiben es in Emails, sie sagen es, wenn man bei ihnen zuhause das gute Geschirr zerdeppert oder sich schon wieder Geld von ihnen leiht. Wir leben in einer Kein-Problem-Gesellschaft, in der alle so tun, als sei das Leben ein Spaziergang und jede Hürde eine willkommene Abwechslung. Sicherlich liegt das auch daran, dass man eigentlich nie das Gefühl hat, sich beschweren zu dürfen, weil es anderen immer noch viel schlechter geht als einem selbst. Ich zum Beispiel weiß, dass ich ein ziemlich gutes Leben führe, dass ich bisher sehr viel mehr Glück als Pech gehabt habe und die ganzen Missgeschicke, die mir ständig passieren, lediglich daher kommen, dass ich ein Mensch bin und keine Maschine. Trotzdem fällt es mir schwer, mich nicht darüber aufzuregen. Ich jammere oft und irgendwie auch gern, weil es mir danach meistens besser geht.
Heute morgen habe ich meine Diät beendet. Ich trat vor die Tür und musste feststellen, dass mein Fahrrad geklaut worden war. Ich weiß, dass sowas ständig passiert, dass Leute ihre Fahrräder und ihre Handys verlieren, ihre Flüge verpassen, in der S-Bahn beklaut und von der Verkehrspolizei erwischt werden. That’s life. Ich kann mir ein neues Fahrrad kaufen. Es ist nicht so schlimm. Ich habe trotzdem geheult, geflucht, mich aufgeregt und diese hundsgemeinen Fahrraddiebe mit allen erdenklichen Verwünschungen zum Teufel geschickt. War dieser Diebstahl die große Aufregung wert? Ehrlich gesagt, ich glaube schon. Wer sich über Dinge aufregt, dem ist immerhin nichts egal. Ich habe dieses Fahrrad geliebt. Ich liebe den Sommer, das Licht und warme Hände. Ich liebe das Gefühl, ausgeschlafen zu sein und keine Kopfschmerzen zu haben. Ich liebe meine Freunde, meine Familie, meinen Job und das Geld, das ich mir dort hart erarbeitet habe. Wer sich aufregt, der liebt. Wer keine Probleme hat, hat kein Leben.