Anziehen hilft

ÜBER DIE THERAPEUTISCHE WIRKUNG VON KLEIDERN

Foto: Alexandra Nataf für Unconditional Magazine

Ich bin 24 Jahre alt, und ich habe eine Midlife-Krise. Das ist nicht dramatisch, aber sehr nervenaufreibend. Ich würde jetzt gerne sagen, dass ich alles ausprobiert habe (einfach, weil es gut klingt): eine Körper und Geist klärende Saftdiät, Yoga, Meditation, eine Weltreise, an deren Ende ich nicht nur zu den Niagarafällen, sondern auch zu mir selbst gefunden hätte. Aber nein, habe ich nicht. Und zwar deshalb, weil es die beste Therapie für das, was mich gerade plagt, längst gibt. Ich kam bloß erst neulich darauf.

Ich hatte schon immer sehr viel vor im Leben. Ich wollte nach Berlin, ich wollte nach New York, ich wollte Journalistin werden, einen tollen Freund finden. Jetzt habe ich all das erreicht – einen Job, für den wahrscheinlich viele Menschen, naja, nicht töten, aber doch sehr weit gehen würden; den klügsten und lustigsten Freund der Welt gefunden; eine Wohnung mit Fernsehturmblick abgestaubt – und weiß nicht mehr, was als Nächstes kommen soll. Klar, ich könnte versuchen, mehr Geld zu verdienen, um mir einen Kühlschrank mit integrierter Eiswürfelmaschine zuzulegen. Ich könnte versuchen, irgendwo Chefredakteurin mit Eckbüro zu werden. Ich könnte heiraten und ein Kind kriegen, oder auch in einem tibetischen Kloster meditieren, für den Triathlon trainieren oder ein großes Bild malen. Es gibt immer etwas zu tun. Mein Problem ist diese schreckliche Ziellosigkeit. Ich weiß nicht, WAS ich will, und das stresst mich, denn bisher wollte ich immer irgendwas. Ich hätte jetzt gerne ein neues kaltes Wasser, in das ich mich beherzt hinein werfen könnte, aber es ist, als würden vor mir zwanzig kalte Seen und dazwischen ein paar lauwarme Pfützen liegen. Wo soll ich nur reinspringen? Und was, wenn ich am Ufer bleibe? Ist dieses Leben dann ab jetzt mein ganzes Leben – bis ich tot umfalle?

Erfahrene Mitmenschen sagen mir, es bleibt nie alles so, wie es ist, es tun sich immer wieder neue Wege auf. Aber ich bin es nicht gewohnt, tatenlos herumzusitzen, bis etwas passiert. Ich ahne, dass ich mich eines Tages vor Lachen kringeln werde über die alberne, hilflose Gestalt, die ich mit 24 war. Aber im Moment bin ich kurz vorm Platzen. Und gegen dieses Gefühl hilft gerade nur eins:

Kleider anziehen.

Wirklich, Kleider helfen! Ich wage sogar zu behaupten: gegen fast alles.

Neulich habe ich es gemerkt: Ich hatte gerade mal wieder einen Beklemmungsanfall hinter mir ob der Vorstellung, mein Leben würde jetzt für immer so und nicht anders weitergehen, als der DHL-Mann Pakete mit geliehenen Kleidern für ein Fotoshooting brachte, das ich gerade plante. Ich öffnete die Schachteln, probierte ein riesiges kariertes Hemd von Marques’ Almeida an, und augenblicklich ging es mir besser. Ich habe Kleider immer für einen Luxus gehalten, natürlich auch für einen Ausdruck meines Charakters und meiner Identität, aber nie für etwas Therapeutisches, Wegweisendes in Zeiten der Verunsicherung. Ich dachte immer: Kleider sind schön, aber es ist anstrengend, sie anzuziehen, zumindest dann, wenn man die Sache mit einem gewissen ästhetischen Anspruch betreibt. Aber wie ich da neulich in diesem Hemd vor dem Spiegel stand und überlegte, was man damit Interessantes anstellen könnte, kam eine herrliche Ruhe über mich. Ich hatte plötzlich ein Ziel vor Augen, und das tat gut.

Wenn man nicht weiß, wie die eigene Zukunft aussehen soll, dann tut es gut zu wissen, wie man selbst aussehen möchte. Ich kann mir vorstellen, dass Kleidung auch in Zeiten von Trauer oder Krankheit hilft oder dann, wenn sich ein Lebensentwurf, auf den man hingearbeitet hat, in Luft auflöst. Ida Hattemer-Higgins schreibt in einem Essay, der in dem Buch „Women in Clothes“ erschienen ist, über die Orientierungslosigkeit, in der sie sich wiederfand, nachdem ihre Verlobung gelöst worden war, und wie ihr eine neue Garderobe in dieser Zeit half, wieder eine Zukunft vor sich zu sehen. „New clothes feel like a hand one reaches forward into the folds of a later time“, schrieb sie. „You touch a piece of fabric, and in doing so you touch a future occasion, a future city, a future life.“

Ich habe mir gerade auf eBay eine fantastische Handtasche gekauft, irre teuer, ewig bin ich um sie herumgeschlichen, und da sie aus Kalifornien kommt, muss ich noch eine Weile auf sie warten. Aber diese Tasche ist für mich wie ein Versprechen: Es wird ein Morgen geben, und ich werde an diesem Morgen diese Handtasche tragen.

Es heißt ja, die heutige Generation der 15- bis 35-Jährigen würde Erlebnisse mehr schätzen als Materielles. Das stimmt, ich fahre auch gerne nach Brasilien, und habe dafür weder ein Auto noch einen Fernseher. Trotzdem besteht das Leben zu 90 Prozent aus Nicht-Urlaub, also aus Alltag, der manchmal wunderbar und manchmal beklemmend sein kann. Man kann nicht immer gleich verreisen, wenn einem die Decke auf den Kopf fällt. Aber manchmal kann eben auch ein neues Outfit befreiend wirken und einen daran erinnern, das eben doch kein Tag wie der andere ist. Dass jedes Aufwachen eine neue Chance ist – wenn nicht für den radikalen Lebenswandel, dann wenigstens für ein Kleid, das man mit diesem Gürtel und jenen Schuhen so noch nie angehabt hat.